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Von Such- und Traummaschinen: Zum filmischen Motiv der Suche

Ein Beitrag von Patrick Holzapfel

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Filmbild aus The Treasure

„Kalt, kalt, wärmer, lauwarm, warm, kälter, viel kälter, eiskalt, wärmer, wärmer, warm, sehr warm, sehr sehr warm, heiß, sehr heiß …“. Für einen verstorbenen österreichischen Poeten waren diese Rufe seiner Mutter zu Ostern derart bedeutend, dass er mit Absicht vermied, das jeweilige Nest zu schnell zu finden. Vielmehr genoss er die Suche an sich, die Bewegung, die Aufmerksamkeit, die Blicke in die verschlossenen Schubladen seiner Eltern, die Zeit, in der es nichts Wichtigeres gab, als das, was man noch nicht hatte. Es war der Genuss der Erwartung, aber auch der Suche selbst. Der Weg ist das Ziel, sagt ein etwas abgedroschenes Sprichwort. In diesem Sinn wollen wir uns auf eine Suche nach der Suche im Film machen.

Natürlich ist die Suche eines der ältesten Motive der Erzählung und sie war immer besonders für den Film geeignet, da sie oft mit Bewegung zu tun hat. In ihrer einfachsten und häufigsten Interpretation ist sie in Filmen psychologisch verankert. Drehbuchlektoren fordern daher bis heute die Suche, die bei ihnen gleichbedeutend mit dem Ziel des Protagonisten einhergeht. Der suchende Protagonist. Die Hindernisse. Das Ziel. Eine Suchbewegung von A nach B, bei der sich so und so viele Faktoren C in den Weg stellen. Wenn B oder der Weg zu B unbekannt ist, handelt es sich um eine Suche. Schön wird es allerdings erst, wenn B gar nicht existiert, wenn B = A ist, sich C als viel wichtiger als B entpuppt oder man B gar vergisst. Ohne diese mathematischen Formeln überstrapazieren zu wollen, könnte man sagen: Es gibt ein Kino der Suche, indem die Suche nicht nur für das Ziel stattfindet, sondern für sich selbst. Es ist ein Kino der Lust an Bewegung. Ein Kino der Verzweiflung an Bewegung. Homers Odyssee ist dafür genauso Vorbild wie Camus‘ Sisyphos.

Im jüngeren osteuropäischen Kino gibt es einige Beispiele für Filme, in denen sich vor allem die Absurdität der Suche findet. In Corneliu Porumboius The Treasure zum Beispiel wird mithilfe eines vogelwilden Wünschelroutenexperten nach einem Schatz im Garten gesucht. Im Film gibt es zwar eine Motivation für die Suche, aber diese ist durch einen dramaturgischen Kniff auf die Ebene einer Kinderwahrnehmung gesetzt. Denn letztlich geht es nur darum, den Glauben der Kinder an einen Schatz beziehungsweise an die Illusion aufrechtzuerhalten. Man sucht also gar nicht wirklich. Vielmehr ist alles ein Spiel, an dessen Ende ein Lächeln stehen sollte, obwohl das bei Porumboiu natürlich nicht so einfach eintritt. Ein anderes Beispiel für eine absurde Suche lieferte Nuri Bilge Ceylan in seinem Once Upon a Time in Anatolia. Dort sucht ein kleiner Konvoi aus Staatsanwalt, Arzt, Polizisten, den mutmaßlichen Mördern und einigen mehr eine vergrabene Leiche. Dabei vergeht Zeit. Eine Suche hängt immer auch an einem Weg, der zurückgelegt wird. Das klingt im Zeitalter von Suchmaschinen etwas irritierend. Schließlich ist die Suche schon lange in die Sucht gekippt. Das Ganze hat etwas beiläufiges bekommen und so richtig bemerkt man die Suche erst, wenn man nicht findet. Aber was ist dann? In Anatolien öffnen sich die Dramen der Figuren in der andauernden Suche. In ihnen wird etwas sichtbar, das man nur schwer benennen kann. Ceylan zeigt, wie die Suche immer etwas über ihren Ort und die Suchenden erzählen kann. In diesem Fall scheint das Herz der Figuren gar ein Sinnbild der Landschaft zu sein oder zu werden. Ein drittes Beispiel für die Absurdität der Suche im jüngeren osteuropäischen Kino findet sich in Me, too von Aleksey Balabanov. In dieser Stalker-Hommage ist es die Suche nach einer Kirche in einer Sperrzone, in der das ewige Glück wartet. Das ist also das Ziel dieser Suche, das ewige Glück? Doch vieles im Film rückt in eine merkwürdige Verspätung bedingt durch Banalität, Alkohol und das Wetter. Hier drückt die Suche wie auch in den zwei vorangegangenen Beispielen etwas über den Zustand der jeweiligen Länder aus. Ein Aussetzen, eine Verzögerung, eine Lüge, eine Leere. Die Suche ist eine immergültige Metapher für innere und äußere Zustände, die bei genauerer Betrachtung gar keine Metapher mehr ist, sondern die Realität, die nur vom Kino und der Selbstlüge eingebremst werden kann.

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Verlorenheit ist eine der Grundstimmungen der suchenden Filme. So ist es die Nacht an einem fremden Ort, in der sich der Junge in Where is the friends home? von Abbas Kiarostami verliert, bestimmt von unheimlichen Eindrücken, der Dunkelheit und dem gleichzeitigen Willen, dem Schulkameraden sein Heft zurückzubringen. Die Suche ist oft gekennzeichnet von der Angst und der Neugier. Dabei kann man das fürchten, auf das man neugierig ist, wie man auf das neugierig ist, das man fürchtet. Nicht umsonst gibt es in vielen Horrorfilmen die Taschenlampe, die das Suchen visuell übersetzt. Als ein eingeschränktes Licht umrahmt von einer Dunkelheit, zittert es beweglich durch die Konturen der Nacht, um möglicherweise etwas zu sehen, was es nie sehen wollte. Dazu hört man Schreie, Rufe. Sie hoffen auf eine Antwort der Vermissten oder erinnern sich nur daran, dass es sie selbst noch gibt.

In Gerry von Gus van Sant schreien die beiden Protagonisten ihren gleichen Namen, als sie sich verlieren. Sie suchen einen Weg nach draußen, einen Weg aus der Wüste heraus. Filme der Suche sind oft Filme der Verirrung. Immer wieder verliert sich van Sant in der hypnotischen Eintönigkeit der Bewegung, eine Suche, die sich in der Hitze selbst vergisst. Es gibt noch irgendein Ziel, aber es befindet sich in einem Off, das man nicht sieht, obwohl die Kamera den ganzen Horizont zeigt. So oder so hat die Suche im Film viel mit dem zu tun, was wir nicht sehen können oder dürfen. Es ist die Sehnsucht nach dem Off-Screen, die Gier nach dem, was sich hinter den Bildern verbirgt. Die filmischen Techniken zur Darstellung von Suche und Suchenden sind vielfältig. Da gibt es die Unschärfen, aus denen eine Unklarheit und Illusion sprechen kann und die sich in scharfe Spuren verwandeln können, denen man folgt. So entdeckt Michael Caine in Prestige- Meister der Magie von Christopher Nolan einen Hinweis am Fuß eines Glases, obwohl er gar nicht gesucht hat. Da gibt es die Suchschwenks, die die Kamera und mit ihr unseren Blick zu Suchenden machen. Man denke an die verrauchten Bars des Film noir, in denen wir die blonden Frauen suchen, die sich meist in der Nähe des Pianospielers herumtreiben. Es gibt Montagesequenzen, die uns hintereinander leere Räume zeigen oder wie im Fall von Park Chan-wooks Oldboy die Suche nach einem Hinweis im Essen.

Aber die Aufnahme der Suche schlechthin ist die Nahaufnahme der Suchenden. In diesen Close-Ups vermag sich nämlich die ganze Kraft und Grausamkeit der Suche offenbaren. Es ist ein Gewicht, das den Fokus vom Ziel auf die Suche legt. Man denke an die sich ständig bewegenden Pupillen von Sandrine Bonnaire in À nos amours von Maurice Pialat. Sie sind in einer derartigen Unruhe, dass man immerzu spürt, dass ihre Suche noch nicht aufgehört hat. Beständig wechseln sie ihre Richtung zwischen den Augen der Männer und zwischen den Männern. Die Pupillen verraten den inneren Drang der Suchenden, die in Wahrheit Nicht-Findende sein müssen. Drifter und Glücksritter, die perfekten Filmhelden. Niemand von ihnen will das Osternest jemals finden, und wenn sie es finden würden, würden sie es wieder verstecken oder zerstören. Die Filme der Suche bewahren auch ein Geheimnis. Eigentlich gibt es bei jedem großen Filmemacher eine Suche, die immerzu ein Geheimnis für sich behält. Man sollte nur zwischen Filmen über die Suche und Filmen über das Finden unterscheiden. Es sind nur die ersteren, die in Bewegung sind. Dabei geht es nicht nur um das große Motiv der Suche. Es geht auch um die essentiellen Fragen zwischen Schatten und Licht: Was passiert als nächstes? Die Suche funktioniert wie ein schleichender Motor, der die Figuren und den Zuseher auch dort vereint, wo es keine Identifikation gibt. In dunklen Gassen sucht man im Kino nach einem Kick. Dabei ist oft nicht wirklich relevant, was gesucht wird, sondern nur, dass gesucht wird. Erschreckend oft löst sich das Gefundene durch einen Schock oder ein erotisches Erlebnis auf. Gerade deshalb ist es so schön, dass die genannten Beispiele aus Osteuropa die Illusionen hinter diesem „Finden“ offenlegen.

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Die Kehrseite dieser Identifikation findet sich in einer anderen Nahaufnahme eines Suchenden. Nämlich jener von Daniel Day-Lewis in There Will Be Blood. Statt der Unsicherheit und Neugier des Suchenden findet sich hier seine Gier. Denn nur weil das Kino die Bewegung der Suche liebt, heißt das nicht, dass die Figuren nichts finden wollen. In diesen Augen spiegelt sich der verbitterte Antrieb auf der Suche nach Öl und Reichtum, das Verderben der Suche. Man denkt an Der Schatz der Sierra Madre, man denkt an Gier und man stellt fest, dass die Suche nach der Wunderlampe nicht immer ein unschuldiges Abenteuer ist, weil hinter einem schon die Gier lauert und einen einsperrt. Die Suche ist auch eine Wartestation auf dem Weg zur Macht. Vielleicht sollte man das fragen: Was wird eigentlich gesucht? Ein Mörder, ein Schatz, eine vermisste Person, ein Geheimnis? Spielt das eine Rolle? Die Suche bringt die Bewegung ins Kino, nicht das Ziel. Das Kino hat sich immer leichter damit getan, Dinge verschwinden zu lassen, als sie zu finden. Aus der Abwesenheit von Dingen entsteht oft erst die Präsenz der Bewegung, während ihre Anwesenheit ein merkwürdiges Vakuum lässt. Nicht umsonst enden viele große Hollywoodfilme mit dem kurzen Glück einer Anwesenheit von Zukunft. Denn nur dann muss man nicht mehr suchen.

Die Schatzsuche an sich ist natürlich ein großes Thema in Steven Spielbergs Indiana-Jones-Filmen. Allerdings fällt auf, dass dort die Suche selbst keine Rolle spielt. Es bleibt gar keine Zeit zum Suchen. Stattdessen findet sich in den Filmen eine andere Form der Bewegung, die nicht am Suchen und Finden hängt, nämlich jene der Flucht. In dem Augenblick, in dem Indiana Jones nach einer Spur sucht, gibt es eine Katastrophe, eine Überraschung, einen humoristischen Einfall. Nicht im Ansatz würde diese Figur in die Verlegenheit einer tatsächlichen Suche kommen. Nein, die Verirrung, Verlorenheit, Absurdität und Bewegung ist hier fester Teil eines größeren Plans, über den Protagonist und Zuseher gleichermaßen Bescheid wissen. Ähnliches lässt sich auch über andere Filme sagen, in denen nach Schätzen gesucht wird. Ein Beispiel wäre auch Sergio Leones unerreichter Zwei glorreiche Halunken. Allerdings findet sich hier ein elementarer Bestandteil der Suche, den Quentin Tarantino auch für seinen Inglorious Basterds übernommen hat: Das Gespräch, die Detektivarbeit. In den Dialogen der Suchenden gibt es einen beständigen Subtext, der etwas sucht und herausfinden will. Es geht um Hinweise, Spuren und so weiter. In einer Zeit, in der solche Vorgehensweisen lange in interaktivere Formen wie Videospiele gewandert sind, muss die Suche im Dialog daher auf eine Sinnlichkeit zurückgreifen, die ihre Bedeutung klarmacht. Oft geschieht dies wieder in Nahaufnahmen, die den Druck jener zeigen, die den Suchenden hindern, oder die Neugier und Unsicherheit derer, die etwas bekommen wollen.

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Ein filmisches Unternehmen ist in gewisser Weise immer eine Suche. Nicht umsonst ist Marcel Proust auf einer Suche genau wie der Locationscout. Manchmal sucht man tatsächlich nach einer Zeit oder eben dem ewigen Glück. In manchen Filmen wird auch nach dem Film gesucht. Beispiele wären Mysterious Object at Noon von Apichatpong Weerasethakul und Our beloved month of August von Miguel Gomes. Die Poesie und Melancholie, die sich hinter dem Suchen eines offenbar bereits Gefundenen entblößt, fing schon Federico Fellini in 8 1/2 perfekt ein. In dieser Suche nach dem Film zeigt sich nicht nur die Prozesshaftigkeit des Films, sondern auch die Fiktionalität der Suche. Denn wenn die Realität voller Suchender ist und Film dieser Realität entspringt, dann kann er sich schwer hinstellen und behaupten, dass er etwas gefunden hat. Es gibt diese Formulierung, die davon spricht, dass Film beziehungsweise die Kamera etwas einfängt. Wenn sie dies wirklich machen würde, wäre das Kino ziemlich arm, denn was gefangen ist, ist eingeschränkt in der Bewegung, ist nicht frei. Vielmehr berührt das Kino und begegnet flüchtig Suchenden auf der eigenen Suche.

Zwei herausragende Filmemacher der Suche sind Lisandro Alonso und Alex Garland. Ersterer hat sich vor seinem jüngsten Film Jauja, indem die Suche auch narrativ in Form einer verschwundenen Tochter thematisiert wird, auf die Essenz der Suchbewegung reduziert. In Filmen wie Los Muertos, Liverpool, Fantasma oder La libertad weiß man weder was noch ob die Figuren etwas suchen. Aus diesem Grund sucht man mit ihnen. Es wird klar, dass die filmische Suche etwas mit Wahrnehmung zu tun hat. Befindet man sich auf einer Suche, schaut und hört man hin. Man achtet auf Details, man versucht, zu verstehen. Die Suche kreiert eine Form der idealen Aufmerksamkeit. Natürlich besteht die Wahrnehmung von Kino und insbesondere des Kinos von Alonso nicht zwangsläufig aus einer durchgehenden Aufmerksamkeit. Auch das verträumte Flanieren des Blicks existiert. Hier findet sich ein Widerspruch, denn dann kommen die Bilder zum Zuseher und er muss nicht suchen. Ausgerechnet Alonso selbst hat so über die Kinoerfahrung gesprochen. Aber irgendwas muss man ja suchen, wenn man ins Kino geht. Sei es nur die Hoffnung auf eine Zeit, in der man nichts suchen muss. So oder so entfaltet sich die Faszination in einem Film wie Los Muertos über den suchenden Blick, dessen Ziel wir nicht kennen. Es ist eine Bewegung an einen unbekannten Ort. Faktor B ist also unbekannt, und so bleibt einem nichts, als sich in A und C zu verlieren, der Essenz der Suchbewegung.

Alex Garland ist ein Filmemacher und Autor, den man nur schwer mit Alonso vergleichen kann. Er arbeitet im kommerziellen Sektor, erzählt sogenannte Geschichten und hat den Anspruch einer Unterhaltung an seine Arbeiten. Dennoch finden sich in diesen außerordentlich spannende Gedanken zur Suche. Egal ob in seiner Schreibtätigkeit, die in Filmen wie The Beach oder 28 Days Later ihren Ausdruck findet, oder in seiner ersten Regiearbeit Ex Machina – bei Garland wird immer etwas gesucht, was wie ein Versprechen wartet. Es ist das Paradies. Es kommt in Form einer Flucht, einer Rettung oder einer verbesserten Welt. Diese Suche ist natürlich eng an eine Sinnsuche geknüpft. Lustvoll setzt er die Suche in Szene mit labyrinthischen Häusern, geheimnisvollen Karten und großen Aufgaben. Allerdings entpuppen sich diese Paradiese immer wieder als Gefängnisse. Sie zeigen, dass man aus der Suchbewegung nicht ausbrechen kann. Das Finden von Glück ist lediglich ein kurzer Augenblick. Darunter liegen schon das nächste Unglück und die nächste Suche nach einem anderen Glück. Mit diesen zum Teil existentialistischen Ideen verortet sich Garland sehr deutlich in einem Kino der Suche. Dabei liefert er in Ex Machina einen unheimlichen Turn, da die künstliche Intelligenz im Film aus dem Suchmaschinenverhalten ihres Testobjekts zusammengestellt wurde. Der Film argumentiert, dass in unserem Suchverhalten etwas versteckt liegt, was mit der DNA vergleichbar ist. Nicht was man suche sei entscheidend, sondern wie man suche. Das assoziative Chaos, die Stichwörter, die sexuellen Triebe, die Neugier, die Angst, die Beiläufigkeit. Das Suchen hat schon lange das Wissen ersetzt. Alles andere ist ganz dem großen Suchenden der deutschen Literatur entsprechend Schall und Rauch. Wie das Kino.

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