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Gefühle im Effektgewitter

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Kino der Gefühle – so lautet der Titel einer Publikation von Georg Seeßlen über das Film-Melodram. Werke, die sich diesem Genre zuordnen lassen, können sich dem emotionalen Exzess anheimgeben; sie können sich jedoch auch auf subtilere Weise dem Innenleben ihrer Figuren widmen, indem sie Blicke und Gesten, Gesagtes und Ungesagtes visuell erfassen.

Meinungen
Bild aus Man of Steel von Zack Snyder
Bild aus Man of Steel von Zack Snyder

Filmgenres, in denen verstärkt mit Effekten gearbeitet wird – etwa Action, Science-Fiction, Fantasy oder Horror –, richten sich wiederum eher auf das Äußere: Jagd, Flucht, Kampf, Gebrüll, Geschrei. Zu schauwertträchtigen Spektakeln ohne Seele müssen sie deshalb aber nicht zwangsläufig geraten.

Dies demonstriert zum Beispiel das Star-Trek-Reboot von J.J. Abrams. Gewiss kann man gegen Star Trek (2009) und dessen Fortsetzung Star Trek: Into Darkness (2013) den Vorwurf erheben, dass sie im Vergleich zu dem von Gene Roddenberry in den 1960er Jahren erdachten TV-Universum, das sich Ende der 1970er Jahre erstmals auf die große Leinwand ausdehnte, weniger den (gesellschafts-)politisch-philosophischen Gehalten ihrer Geschichten auf den Grund gehen, sondern auf hohes Tempo und aufwendige (CGI-)Effekte setzen.

Doch zu den Kernkompetenzen der beiden Abrams-Produktionen zählt etwas, was auch die Ursprungsserie Raumschiff Enterprise (1966-1969) mit William Shatner und Leonard Nimoy stets auszeichnete: die Auslotung einer Beziehung, die – nun ja – nicht zwischenmenschlich ist, sondern sich zwischen einem Menschen und einem Halb-Vulkanier entwickelt. Captain Kirk (Chris Pine) ist ungestüm, Commander Spock (Zachary Quinto) folgt indes, gemäß der Überzeugung des vulkanischen Volkes, der Logik. Mit dieser charakterlichen Gegensätzlichkeit ist die wichtigste Voraussetzung für eine Hassliebe in screwball-comedy-Manier geschaffen, die in komischen, aber auch dramatischen Momenten zum Tragen kommt. Von der ersten, konfliktreichen Begegnung zwischen den beiden (Kirk über Spock: „Who was that pointy-eared bastard?!“) bis zum harmonischen Blickwechsel auf der Enterprise-Brücke am Ende von Star Trek: Into Darkness ist es ein weiter Weg, der unter anderem an einem rachsüchtigen Romulaner und einem zornigen, genmanipulierten Soldaten vorbeiführt.

Dass dieser Weg für uns als Publikum mehr ist als eine Aneinanderreihung spaciger Actionsequenzen, gepaart mit den Standardsituationen der buddy-movie-Erzählung, liegt vor allem daran, dass die Filme ihrem Hauptdarsteller-Duo schauspielerisch etwas abverlangen. Neben one-liner-Geplänkel und Heldentum müssen Pine und Quinto die langsame Entstehung einer Freundschaft zum Ausdruck bringen, die für etwas sehr Grundsätzliches steht: die Konfrontation mit dem ‚Anderen‘ – sowie die Annäherung und letztendlich die gegenseitige Wertschätzung.

Nicht immer kann sich Schauspielkunst und somit eine glaubhafte Vermittlung innerer Vorgänge inmitten von Trickaufnahmen behaupten; vielmehr hat das Verramschen von Talent in Großspektakeln insbesondere in Hollywood eine lange Tradition. Ein treffendes Beispiel hierfür ist die Flut von Katastrophenfilmen, die in den 1970er Jahren über die Kinobesucher_innen hereinbrach: Zwischen 1970 und 1979 wurden etwa die Namen von Stars wie Burt Lancaster, Jean Seberg, Karen Black, Jack Lemmon, Olivia de Havilland, James Stewart oder Alain Delon genutzt, um in der Airport-Reihe von schlechtem Wetter, diversen Worst-Case-Szenarien in Flugzeugen sowie sehr schematisch entworfenen Privatproblemen zu erzählen. Ebenso wurden Steve McQueen, Paul Newman, William Holden, Faye Dunaway, Jennifer Jones und viele weitere begabte Akteur_innen achtlos in ein Flammendes Inferno (1974) geworfen, während ein Erdbeben (1974) die mimischen Fähigkeiten von Charlton Heston, Ava Gardner und Geneviève Bujold im sogenannten Sensurround-Verfahren laut tönend in den Hintergrund drängte. Einige dieser Werke – die erwähnten gehören noch zu den gelungeneren – gelten zwar (durchaus zu Recht) als Klassiker ihres Genres; bedenkt man jedoch das vergeudete Potenzial ihrer Mitwirkenden, sind sie ein ziemliches Ärgernis.

Erdbeben
Bild aus Erdbeben von Mark Robson; Copyright: Universal Pictures

 

Auch in zahlreichen tentpole pictures unserer Zeit lässt sich diese Vergeudung feststellen: So bleiben etwa die vier talentierten Jungstars in der Comicverfilmung Fantastic Four in ihren Hauptrollen völlig unterbeschäftigt, derweil die Fantasyroman-Adaption Seventh Son die großartige Alicia Vikander (The Danish Girl) in einem öden love-interest-Part verschleudert und nichts – rein gar nichts – aus der Gelegenheit macht, Jeff Bridges und Julianne Moore (das Leinwandpaar aus The Big Lebowski) gegeneinander antreten zu lassen.

Jüngstes Beispiel einer vertanen Chance ist Batman v Superman: Dawn of Justice: Die Zack-Snyder-Schöpfung hat Jesse Eisenberg, Diane Lane, Laurence Fishburne, Holly Hunter, Jeremy Irons und trotzdem allenfalls einen einzigen mitreißenden Moment, in dem Hunter als Senatorin in einem Blick den Übergang von diffuser Irritation zu entsetzlicher Gewissheit sichtbar machen kann, ehe das nächste CGI-Inferno hereinbricht. Der titelgebende Konflikt zwischen Bruce Wayne aka Batman (Ben Affleck) und Kal-El aka Clark Kent aka Superman (Henry Cavill) läuft auf eine hanebüchen herbeikonstruierte Prügelei hinaus, die man als Äquivalent für die zumeist ebenso mies motivierten und langweilig gestalteten Liebesszenen in etlichen Popcorn-Unterhaltungsproduktionen begreifen kann: zwei Körper in Bewegung, in nächster Nähe zueinander – doch den Zuschauer_innen teilt sich nichts mit, kein Gedanke, kein Gefühl.

Die zentrale love story zwischen Clark und Lois (Amy Adams) wird zu einem frühen Zeitpunkt in einer biederen, möglicherweise von Nicholas Sparks zum Skript beigesteuerten Szene eingefangen, in der er keck zu ihr in die überschwappende Badewanne steigt; die übrigen gemeinsamen Momente sind größtenteils Rettungsaktionen, da einerseits Lois – wie das Drehbuch vermuten lässt – weder eine allzu umsichtige Journalistin noch eine besonders gute Schwimmerin ist und andererseits Superman im Zwist mit Batman keinen geraden Satz herausbringen kann und deshalb seine Herzensdame zur raschen Ein-Satz-und-alles-ist-geklärt-Deeskalation benötigt. Die fast ausnahmslos überqualifiziert besetzten Figuren werden zu Erfüllungsgehilf_innen einer holprigen Dramaturgie; für leise Zwischentöne hat dieses Werk trotz einer Länge von 151 Minuten offenbar kaum Zeit.

Im (zweifelsohne nicht makellosen) Vorgängerfilm Man of Steel, ebenfalls von Zack Snyder inszeniert, sieht dies ein bisschen anders aus – was sich etwa an der von Diane Lane verkörperten Martha-Kent-Rolle aufzeigen lässt. Wenn Martha darin auf den panischen Ausruf ihres neunjährigen (Zieh-)Sohnes Clark, die Welt sei „too big“, mit Einfühlungsvermögen entgegnet „Then make it small“, dann fasst sie damit genau das zusammen, was eine großbudgetierte Produktion (auch) leisten muss: in einem gigantischen Kosmos das vermeintlich Kleine erkennen und genau betrachten.

Man of Steel bietet Lane (und deren Co-Stars) einen gewissen mimischen Entfaltungsspielraum und erreicht so ein Mindestmaß an emotionaler Tiefe; in Batman v Superman gibt Martha Superman indessen in einer einfallslos gedrehten Kansas-Passage einen Nonsens-Rat, den sowohl der Held als auch das Publikum direkt wieder vergessen können („Be anything they need you to be … or be none of it“); später wird Martha dann zur damsel in distress degradiert. Überdies wird die Liebesgeschichte zwischen Lois und Superman in Man of Steel wesentlich vielversprechender eingeleitet, als sie in Batman v Superman fortgeführt wird: Zum ersten Mal in Supermans Kino-Laufbahn ist die Beziehung frei von Albernheit und Oberflächlichkeit, da Lois recht schnell hinter das Geheimnis von Kal-El/Clark kommt – und sich dadurch tatsächlich Nähe und Vertrauen zwischen den beiden aufbauen kann. Schade, dass Batman v Superman damit nichts anzufangen weiß.

Man of Steel
Bild aus Man of Steel von Zack Snyder; Copyright: Warner Bros.

 

Ein weiterer Beweis, dass Gefühle selbst im heftigsten Effektgetöse nicht verschüttgehen müssen, ist Marvel’s The Avengers 2: Age of Ultron von Joss Whedon. Der Film schildert in seinem Hauptstrang das Gefecht zwischen dem Superheld_innen-Team Avengers und einer KI (Künstlichen Intelligenz) und widmet sich in einem seiner Nebenstränge der wachsenden Zuneigung zwischen einer Ex-KGB-Agentin und einem Nuklearphysiker, der sich (bedingt durch einen Unfall mit einer Gamma-Bombe) bei aufkommender Wut in einen grünhäutigen Koloss verwandelt.

Das hätten wohl auch Robert Louis Stevenson und Ian Fleming in einem Arbeitskreis jenseits von Raum und Zeit nicht kniffliger ausklügeln können – und führt zu einigen bemerkenswert stillen Augenblicken: Wenn Natasha Romanoff aka Black Widow (Scarlett Johansson) den Zorn des zum Hulk transformierten Bruce Banner (Mark Ruffalo) mit sanften Berührungen beschwichtigt und Bruce dadurch wieder die Gestalt eines Menschen annimmt, kommt auch die hektische Handlung kurz zur Ruhe. Und wenn Natasha Bruce an späterer Stelle nach einem Kuss und dem Bekenntnis „I adore you“ von einer Klippe stößt, da sie für den anstehenden Kampf den rasenden Hulk braucht, ist das eine schön zugespitzte Illustration des Begriffs amour fou.

Im neusten Marvel-Abenteuer The First Avenger: Civil War von Anthony Russo und Joe Russo tritt Bruce nicht in Erscheinung; hier sind es vor allem die Gespräche und Blicke zwischen Natasha und Steve Rogers aka Captain America (Chris Evans), die in Erinnerung bleiben. Zwar krankt auch The First Avenger: Civil War gelegentlich an forcierten Wendungen; dennoch gelingt es, die Figuren nicht nur zu Stichwortgeber_innen für spektakuläre Sequenzen zu machen: Johansson und Evans lassen uns in ihren gemeinsamen Szenen spüren, dass Natasha und Steve einander viel bedeuten.

Avengers 2
Bild aus Marvel’s The Avengers 2: Age of Ultron von Joss Whedon; Copyright: Walt Disney Studios Motion Pictures Germany GmbH

 

In etlichen Fantasyfilmen – zum Beispiel der Twilight-Saga, Juan Diego Solanas‘ Upside Down oder The Huntsman & the Ice Queen von Cedric Nicolas-Troyan – wird den Gefühlen reichlich Platz eingeräumt; Mut zur Extravaganz haben die meisten dieser Werke aber nur in Bezug auf die Erschaffung ihrer Welten, nicht im Hinblick auf ihre Konzepte von Liebe. Im konfus-überladenen Jupiter Ascending von den Wachowski-Geschwistern kommt die Anziehung zwischen Jupiter Jones (Mila Kunis) – einer Putzhilfe sowie intergalaktischen Thronerbin (!) – und dem netten Wolfsmenschen Caine (Channing Tatum) immerhin erfreulich schräg daher.

Reizvoller kann indes die Darstellung von zarten Empfindungen in Horrorfilmen sein, wenngleich dies nicht unbedingt naheliegt. Die Bedrohungen, denen sich die Protagonist_innen in diesem Genre ausgesetzt sehen, sind jedoch nicht selten wuchtiger als die Tragödien, die sich in Liebesfilmen ereignen. Neben der tieftraurigen Leidenschaft zwischen Dracula und Mina (Gary Oldman und Winona Ryder) in Francis Ford Coppolas Dracula-Version (1992) vermag etwa die Beziehung zwischen dem adoleszenten Paul (Keir Gilchrist) und seiner gleichaltrigen Nachbarin Jay (Maika Monroe) in David Robert Mitchells It Follows zu demonstrieren, dass Horrorfilmfiguren oft zu den eindrücklichsten Liebesgesten imstande sind: Um Jay beizustehen (was in dieser Geschichte heißt, mit ihr zu schlafen), nimmt Paul es in Kauf, für den Rest seines jungen Lebens von abgetakelten Gestalten verfolgt zu werden. Hat Tom Hanks in irgendeiner love story je etwas derart Fundamentales für Meg Ryan getan – oder sie für ihn? Wohl kaum.

Fede Alvarez‘ Evil-Dead-Remake ist wiederum nicht nur eine drastische Splatter-Orgie, sondern zudem, am Rande, eine wirklich beachtenswerte Erzählung über bedingungslose Geschwisterliebe – ein Thema, das (abgesehen von Die Eiskönigin) viel zu selten filmisch behandelt wird: Um seiner drogensüchtigen Schwester Mia (Jane Levy) den kalten Entzug zu ermöglichen, begibt sich David (Shiloh Fernandez) mit ihr und einer kleinen Gruppe in eine abgelegene Hütte im Wald – wo leider bald das Teuflische zu tanzen beginnt.

Als der „schockierendste Film, den du jemals sehen wirst“ wird Alvarez‘ Werk auf dem Plakat angekündigt. Das mag sein. Zugleich erweist es sich aber als zärtlich und anrührend – was womöglich das Schockierendste an diesem „schockierendsten Film“ ist. Ja – Evil Dead ist tatsächlich auch ein Stück Kino der Gefühle, obendrein ein äußerst wirkungsvolles. Dank des Skripts und der Inszenierung sowie nicht zuletzt dank Levy und Fernandez werden aus den malträtierten Körpern, die das Horrorgenre seit jeher fordert, malträtierte Menschen; aus ‚Twen-in-Not-1‘ und ‚Twen-in-Not-2‘ werden Mia und David – und mit diesen beiden fühlen wir mit: die Angst, den Schmerz – und die gegenseitige Zuneigung, die sie an diesen sinistren Ort geführt hat.

Evil Dead
Bild aus Evil Dead von Fede Alvarez; Copyright: TriStar Pictures

 

Auch weniger gelungene Gruselstreifen können sehr beeindruckende Gefühlsmomente hervorbringen – etwa Anthony Wallers Horrorkomödie American Werewolf in Paris (1997), die späte Fortsetzung des John-Landis-Genreklassikers American Werewolf (1981). Darin stürzt sich die enigmatische Serafine (Julie Delpy) vom Eiffelturm, da sie ein Werwolf ist und versehentlich ihre Eltern getötet hat. Der US-Tourist Andy (Tom Everett Scott) springt hinterher – er hat praktischerweise gerade ein Bungee-Seil umgebunden – und kann sie vor dem Tod bewahren. Serafine läuft weg, Andy sucht sie, wird ebenfalls zum Werwolf … kurz gesagt: Die Handlung ist der allergrößte Unsinn. Aber ist ein pointierteres Bild für die Metapher ‚falling in love‘ denkbar als dieser zweisame Sturz vom Eiffelturm?

American Werewolf in Paris
Bild aus American Werewolf in Paris von Anthony Waller; Copyright: Concorde

 

Wenn Drehbuch, Regie und Kamera sich aufrichtig für die handelnden Figuren interessieren, kann jedes Genre ein Kino der Gefühle erzeugen; nur in Filmen, die dieses Interesse vermissen lassen, führt ein hoher Einsatz von Effekten zum Niedergang der Nuancen – im Spiel der Mim_innen und in der Wahrnehmung des Publikums.

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