Istanbul United

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

"Taksim ist überall, Widerstand ist überall" – auch im Fußballstadion

Egal, ob sich die Diskussion um Arbeitsbedingungen beim Stadionbau in Katar oder Demokratiedefizite in Russland dreht, immer heißt es von großen Geldgebern wie der FIFA, man dürfe das alles nicht auf dem Rücken der Sportler austragen; Fußball und Sport seien unpolitisch. Wie unsinnig dieses Argument ist, das versucht Istanbul United von Oliver Waldhauer und Farid Eslam aufzuzeigen. Der Dokumentarfilm berichtet von den Demonstrationen in und um den Gezi-Park und den Taksim-Platz im Jahre 2013 und zeigt, welche bedeutsame Rolle die lokalen Fußballclubs dabei gespielt haben.
In Istanbul, so erklärt eine Texttafel am Anfang des Films, gibt es drei große Vereine: Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş Istanbul. Sie sind erklärte Rivalen, ihre Fans alles andere als befreundet. Nach Spielen kommt es regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der Film bemüht sich zunächst, dem Zuschauer ihre Fankultur näher zu bringen. Schon in der Titelsequenz badet die Kamera von Kinematograph Paul Rossaint im Publikum, fängt die Gesänge, Schlachtrufe und vor allem die ekstatischen Ausdrücke auf den Gesichtern ein. Von den Spielen selbst gibt es wenig bis nichts zu sehen. Das ist nur konsequent, schließlich geht es doch mehr um die Stimmung und Atmosphäre um den Rasen herum. Um alles was folgt nachzuvollziehen muss der Zuschauer lernen, wie wichtig Fußball diesen Menschen ist.

Die Filmemacher haben dazu verschiedenste Sportbegeisterte befragt. Kerem Gürbüz, ein „Ultra“ von Galatasaray, berichtet davon, wie sein Vater ihn schon in frühester Kindheit ins Stadion mitnahm und wie er auf diese Weise lernte, Fußball vor allem mit positiven Dingen zu verbinden. Der Sport und sein Verein sind unwiderruflich mit seiner Identität verknüpft. Das gilt auch für den Beşiktaş-Enthusiasten Ayhan Güner, der schon bei über 500 Spielen seines Clubs vor Ort war. Beide sind sich einig: Fußball darf nicht zu sehr kommerzialisiert werden, er gehört dem Volk. Und er verbindet die Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten miteinander. Denn sowohl einfache Arbeiter als auch Banker und Politiker jubeln mit, wenn ein Tor für ihre Mannschaft fällt. Gürbüz versteht sich als Antikapitalist, Güner bezeichnet sich und seine Leute als „Tribünenanarchisten.“

Doch Istanbul United zeigt auch die Schattenseiten dieser starken Identifikation: Sowohl die verbale Gewalt in Form von stellenweise menschenverachtenden Fangesängen, in denen wahlweise die Mutter der Gegner angegriffen oder ihre Männlichkeit in Frage gestellt wird. Oder eben die physische Gewalt der Hooligans. Wer zu einer Gruppe gehört, grenzt sich dadurch immer auch von anderen ab. Ein junger Mann, der lieber anonym bleiben will gesteht: „Schon mit 14 konnte ich mir vorstellen, einen Galatasaray Fan zu töten.“ Die Regisseure montieren dazu Bilder von Ausschreitungen, Rauch steigt auf in den Stadien, das Flackern der Bengalos lässt alles wie ein Inferno erscheinen. Zuschauer schreien verzweifelt nach einem Arzt für einen verletzen Freund. Ein Sportjournalist berichtet von dem Tod eines Siebzehnjährigen, der von einem Fan einer konkurrierenden Mannschaft erstochen worden ist. Die Ursache für diese Gewalt scheint schwer zu ermitteln. Sind es die Hooligans, die Polizisten oder gar die Medien? Eine Festlegung findet nicht statt.

Genau so plötzlich, wie sie in der Realität stattgefunden haben, dringen auch die Geschehnisse rund um den Gezi-Park in die Filmwelt ein: Plötzlich sehen wir schaufelnde Bagger. Die Stadtverwaltung Istanbuls begann im Mai 2013 mit einer Neubebauung der Grünfläche, hier sollte ein Einkaufszentrum entstehen. Die kleine Anlage direkt am Taksim-Platz wurde ein Symbol für die Regierung unter Ministerpräsident Erdoğan, vor allem dafür, wie wenig diese sich für den Willen der Bevölkerung interessierte. Anwalt Can Atalaya beschreibt sie im Film als autoritäre Neoliberale, die Freiheit predigen, aber jeden, der anders denkt, verprügeln und wegsperren. Es fanden sich Parkschützer zusammen, ihre Demonstrationen wurden Ende Mai gewaltsam niedergeschlagen, woraufhin es zu Protesten im ganzen Land kam.

Und hier kommen die Fußballfans wieder ins Spiel, hier offenbaren die Filmemacher die eigentliche These ihres Films: Zwischen Demonstranten und Ultras besteht eigentlich kein großer Unterschied. Beide Gruppen werden von den Behörden als gewalttätig gesehen, beide haben Probleme mit der Polizei, sind Antikapitalisten und kritisch gegenüber Autoritäten eingestellt. Beide Gruppen verzehren sich fast vor Leidenschaft für ihre Sache. Sie singen die selben Lieder, sowohl auf dem Taksim-Platz als auch im Stadion ertönen Rufe wie „Kommt und beschießt uns/ beschießt uns mit Tränengas!/ Legt Schlagstock und Helm weg, und wir sehen wer der Boss ist.“

Im Angesicht eines größeren Ziels verbünden sich die drei Fußballclubs. Waren sie zuvor erbitterte Feinde, sehen sie sich nun durch ein größeres Übel dazu gezwungen, miteinander zu kooperieren. Der Film bemüht ein wenig den Pathos von Fantasy-Filmen – in manchen Momenten könnte man meinen, es gehe nicht um die Polizei, sondern um Horden von Orks. Und ähnlich wie beim Herr der Ringe machen in der späteren Handlung Gefechte einen nicht ganz unerheblichen Teil des Erzählten aus. Fast könnte man meinen, die Kamera ergötze sich an den endlosen Straßenschlachten, den Prügeleien im Tränengas, an den Polizisten mit Sturmschildern und Maschinengewehren,an Chaos und Anarchie. Vielleicht war es ja die Intention, den Schrecken der staatlichen Gewalt drastisch in Bilder zu kleiden, doch manchmal stellt sich die Frage, ob ein Action-Spielfilm hier nicht die bessere Wahl gewesen wäre. Gelungener ist der Film, wenn er die stillen Momente des Widerstands festhält. Etwa einen Cellisten, der in Gasmaske auf dem Taskim-Platz spielt und für einen Augenblick wie der letzte Verteidiger von Kunst und Kultur wirkt.

Die zentrale These von Istanbul United sollte man kritisch hinterfragen: Ist Begeisterung immer positiv zu werten, sind Sportenthusiasten und politische Idealisten gleichzusetzen? Über welche Gruppe sagt dieser Vergleich mehr aus? Fan kommt von Fanatiker, und die Grenze verschwimmt im Laufe des Films mehrfach. Auf die harte Hand der Regierung reagieren die Demonstranten wiederum mit Stärke. Die jungen, armen und wütenden Männer des Landes, in der Regel wenig gebildet und ohne Perspektive, beherrschen das Land. Recep Tayyip Erdoğan rekrutiert einen Großteil seiner Wähler aus ihren Rängen. Viele, die jetzt gegen ihn auf der Straße stehen, haben ihn selbst gewählt und sehnen sich nicht nach Pluralität und Demokratisierung, sondern einfach nach dem nächsten starken Mann an der Spitze.Die wahren Opfer von Erdoğans Angriff auf das Atatürk-Erbe wie Frauen, Homosexuelle, oder politisch Linke kommen weder hier, noch im Rahmen der politischen Umwälzungen, wirklich zu Wort. Die Regisseure kommentieren die Schwächen der Bewegung kaum und schaden ihr damit.

Am Ende wird Bilanz gezogen: Am 15. Juni 2013 endeten die Proteste, sie forderten acht Menschenleben, annähernd 8000 wurden verletzt. Was bleibt, ist von den Protagonisten schwer in Worte zu fassen. „Hoffnung“, meinen die meisten. „Eine neue Parkkultur“, sagt ein anderer. Tatsächlich ist vor allem der Beweis erbracht, dass Sport politisch sein kann, zumindest aber seine Anhänger es sind. Die Regierung versucht Gesänge mit Botschaft von den Tribünen zu verbannen, ist dabei aber erfolglos. Denn: „Taksim ist überall, Widerstand ist überall!“ — eben auch im Stadion.

Istanbul United

Egal, ob sich die Diskussion um Arbeitsbedingungen beim Stadionbau in Katar oder Demokratiedefizite in Russland dreht, immer heißt es von großen Geldgebern wie der FIFA, man dürfe das alles nicht auf dem Rücken der Sportler austragen; Fußball und Sport seien unpolitisch. Wie unsinnig dieses Argument ist, das versucht „Istanbul United“ von Oliver Waldhauer und Farid Eslam aufzuzeigen. Der Dokumentarfilm berichtet von den Demonstrationen in und um den Gezi-Park und den Taksim-Platz im Jahre 2013 und zeigt, welche bedeutsame Rolle die lokalen Fußballclubs dabei gespielt haben.
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