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Specials: Gestreamt: Jonathan Glazer

Bewegung, Körperlichkeit und surreale (Gefühls-)Welten sind die großen Konstanten im Schaffen von Jonathan Glazer. Zum Start seines neuen Kurzfilms greifen wir seine Arbeiten in unserer Reihe „Gestreamt“ auf.

Warner Bros. / Senator / Fox Searchlight Pictures

Am 15. August startet - exklusiv auf MUBI — mit Strasbourg 1518 ein neuer Kurzfilm von Jonathan Glazer. Und das ist durchaus etwas Beachtliches. Denn die quantitative Menge an Bewegtbild-Material, die der inzwischen 55-jährige Londoner bislang abgeliefert hat, ist doch vergleichsweise überschaubar. Zumindest, wenn man ausschließlich auf Kurz- und Langfilme blickt. 

Ross from hamilton on, Canada / CC BY 2.0

Im Bereich der Musikvideos und Werbespots ist Glazer hingegen deutlich produktiver. Hier machte er sich schon Anfang der 1990er-Jahre, nach seinem Theaterdesign-Studium und ersten Kurzfilmversuchen, einen Namen, inszenierte ungewöhnlich ästhetische Werke, in denen seine cineastische Prägung zum Ausdruck kam. Und der auf diese Weise nach und nach seine eigene Bildsprache entwickelte, die vom Tanz, von der Kopplung von Bewegungen und Musikalität, geprägt ist und mit Formen spielt. Eine Ästhetik, die in der heutigen Youtube-Musikvideo-Schnelllebigkeit wie ein Relikt vergangener Zeiten anmutet. Ausgerechnet Youtube und andere Videoplattformen sorgen allerdings auch dafür, dass Glazers Werkbiografie nahezu vollständig im Netz verfügbar ist.

 

(Frühe) Musikvideos im Stream:

Massive Attack: Karmacoma (1995)

Ein endloser Hotelflur, verrückte Gestalten, die in den Zimmern lauern, und dann auch noch die Zwillinge, die mitten im Gang stehen: Es fällt schwer, bei Glazers erstem großen Musikvideo nicht sofort an Stanley Kubricks Shining zu denken. Ein orientierungsloser Räuber und eine Dame mit schwarzer Perücke referenzieren überdies Quentin Tarantino. Schon früh macht Glazer deutlich, wo seine Inspirationsquellen liegen — und schafft mit Karmacoma ein eindrucksvolles, cineastisches Musikvideo, das in subtilen, von Paranoia getriebenen Horrorgefilden wildert und viele kleine Erzählungen aufbaut, die auf ihre Weise ein schlüssiges Ganzes ergeben: ein unwirkliches Gefühl.

 

Blur: The Universal (1995)

Und nochmal Kubrick: Wenn Glazer zu Beginn von Blurs The Universal die Kamera von den regungs-, aber nicht emotionslosen Gesichtern der Band wegzieht, dann ist sofort klar, dass dieser Clip eine Verbeugung vor Uhrwerk Orange ist. Die Mitglieder von Blur werden zu den Droogs — und wie ihre Vorbilder rütteln sie die elitäre Gesellschaft um sie herum auf. Ihr Mittel ist diesmal jedoch nicht Gewalt, sondern Musik. Und die kräftigen, symbolträchtigen Farben, in die Glazer seine fast eins zu eins aus Uhrwerk Orange kopierten Kulissen taucht.

 

Radiohead: Street Spirit (Fade Out) (1996)

In seinem ersten Video für Radiohead werden Bewegung und Körperlichkeit endgültig zum großen Merkmal von Glazer, der hier immer wieder mit Slowmotion-Aufnahmen von springenden Menschen und Tieren arbeitet und auf diese Weise die Mühsal und Hilflosigkeit, die im Song anklingen, visuell zur Geltung bringt. Verstärkt durch die in Schwarz-Weiß gehaltenen Bilder entsteht eine packende Melancholie, durch die ein leichter Hoffnungsschimmer strahlt. Glazer macht spätestens mit Street Spirit deutlich, dass er auch in Musikvideos wie in Werbespots arbeitet, die jedoch Wirkung umkehrt: er erzeugt ein Gefühl, aber ein grundlegend unbehagliches. Zumindest meistens.

 

Jamiroquai: Virtual Insanity (1996)

Nur mit einem klassischen Pop-Musiker arbeitete Jonathan Glazer zusammen — mit erfolgreichem Ergebnis: Das Video zu Jamiroquais Virtual Insanity erhielt gleich drei MTV Music Video Awards. Dabei war die Idee vergleichsweise simpel: Jamiroquai tanzte in einem Set mit beweglichen Wänden, derweil die Kamera an eben diesen Wänden befestigt ist. Es entsteht die Illusion, dass sich der Bogen bewegt. Wie Glazer in einem Interview erklärte, hätten ihn vor allem Jamiroquais Art, sich beim Tanzen zu bewegen, ihn überzeugt, das Video zu drehen. Das Resultat ist eine Synthese aus den Bewegungen des Musikers und denen, die der Regisseur schafft. Trotz einer fast statischen Kamera.

 

UNKLE: Rabbit In Your Headlights (1998)

Ein Novum im Musikvideo-Genre: Glazer mischt sich in Rabbit in Your Headlights in die musikalische Ebene ein, lässt einen Obdachlosen durch einen Tunnel laufen, der Song wird durch seinen Monolog und die immer wieder aufbrüllenden Autohupen durchbrochen. Dieser Mann, der hier läuft, stört ein System — das System — und kann am Ende einen Sieg erringen. Es ist ein körperlicher Sieg, der mit einem Knall kommt. Ein vielschichtiges Werk, das Glazers Status als exzeptioneller Musikvideoregisseur endgültig zementierte.

 

 

Kurz- und Spielfilme im Stream:

Sexy Beast (2000)

Der ehemalige Safeknacker Gal (Ray Winstone) soll für einen letzten großen Überfall engagiert werden, lehnt jedoch ab. Der Mann, der ihn anheuern will (Ben Kingsley), gibt sich damit nicht zufrieden und terrorisiert zunehmend Gal sowie seine Frau. Es kommt zum Eklat — und Gal nimmt den Job an, da sonst sein Tod droht.

Unweigerlich erinnert Sexy Beast an die frühen Werke Guy Ritchies: Heist-Movies mit überzeichneten Charakteren, wilden Dialogen und diesem typisch britischen Charme. Glazer gibt der Geschichte dennoch seinen eigenen Drill, flechtet surreale (Alb-)Traumsequenzen ein und setzt auch diesmal die Körper(lichkeit) seiner Figuren in den Mittelpunkt.

Sexy Beast ist in der Sky Flat enthalten und als Leihgabe bei allein gängigen VoD-Anbietern.

Birth (2004)

Ein Film über ein scheinbar unmögliches Ereignis: Annas (Nicole Kidman) Ehemann Sean ist verstorben – und steht plötzlich in Gestalt eines zehnjährigen Jungen wieder vor ihr. So behauptet es jedenfalls der junge Sean (Cameron Bright). In düsteren, farbarmen Bildern erzählt Glazer eine Geschichte von Liebe, Treue, Vertrauen und Eifersucht — und scheiterte damit beim Publikum sowie auch einigen Kritiker*innen, die sich unter anderem an der Beziehung zwischen einer erwachsenen Frau und einem Kind störten. Auch der Schwenk ins Übernatürliche und Metaphysische kam nicht überall gut an. Frei von jedem Makel ist jedoch die hervorragende Inszenierung von Glazer, die abermals auf eine unbehagliche Atmosphäre abzielt. Mit Erfolg.

 

Birth ist auf Amazon Prime, bei Apple TV, im Maxdome Store und bei Magenta TV als Leihgabe oder zum Kauf erhältlich.

Under the Skin (2013)

Eine Frau (Scarlett Johansson) fährt in einem Lieferwagen durch Schottland, spricht Männer an und verführt sie, um sich ihrer Körper zu bemächtigen — die Handlung von Under the Skin ist weder umfang- noch dialogreich, aber dafür ästhetisch und atmosphärisch umso beeindruckender. Nicht zuletzt deshalb gilt dieser Film bei nicht wenigen als einer der besten Horrorfilme des vergangenen Jahrzehnts. Andere empfinden ihn hingegen als furchtbar langweilig — alles andere wäre eines solchen Experimentalfilms aber auch nicht nicht würdig gewesen.

Unter der stilisierten Oberfläche verbirgt sich jedoch eine ambivalente Geschichte über Einsamkeit und Liebe, Körperlichkeit, Sex und die Suche nach Zuneigung, die zu berühren weiß, wenn man sich dem Sog der Bilder und der Musik ergibt.

Under the Skin ist bei fast allen gängigen Streaming-Plattformen zur Leihe verfügbar.

The Fall (2019) 

Nach einer sechsjährigen Pause kehrte Glazer 2019 mit dem MUBI-exklusiven Kurzfilm The Fall zurück, einem weiteren Horrorfilm, in dem er einen maskierten Mob auf einen Mann loslässt, der mit einem Strick um den Hals an einem Baum endet. Die Masken des Mobs verkörpern verschiedenen Emotionen, die eine Gesellschaft destabilisieren können — Angst, Unsicherheit, Sadismus — und letztlich zur Suche eines gemeinsamen Sündenbocks führen. Ein kurzer, aber kompromissloser Streifen in typischer Glazer-Manier, sprich: aufwühlend.

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