Features: 25 Jahre gesamtdeutscher Film – eine Erfolgsgeschichte?

Ein Beitrag von Urs Spörri

Im Jahr 2015 jährte sich die bundesdeutsche Wiedervereinigung zum 25. Mal. Anlass genug, sich mit der Entwicklung der Besucherzahlen deutscher Kinofilme seit 1991 zu beschäftigen. Spannend ist vor allem: Der Vorwurf, es gebe „zu viele“ und sich kannibalisierende deutsche Filme, kann empirisch widerlegt werden. Der Marktanteil der Besucher von deutschen Kinoproduktionen ist in den vergangenen 25 Jahren um das Dreifache gestiegen und bereits die absoluten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Der deutsche Film boomt! Die wichtigste Erkenntnis der aus den Geschäftsberichten der Filmförderanstalt FFA abgeleiteten Statistiken und Untersuchungen ist: Der deutsche Film hat KEIN Quantitätsproblem. 

Deutsche Kinostarts seit der Wiedervereinigung

Noch bis ins Jahr 2000 startete jedes Jahr eine zweistellige Zahl an deutschen Spiel- und Dokumentarfilmen in den Kinos. Mit dem Einsetzen der Digitalisierung und dem erleichterten Zugang zu Mitteln der Filmproduktion ist der rapide Anstieg auf 229 Filme bis ins Jahr 2014 zu erklären. Es ist einfacher, Filme zu realisieren und fertigzustellen — nur werden diese vielen Filme auch vom Publikum gesehen?

Entwicklung der Besucherzahlen deutscher Filmproduktionen (in Mio)

 

 Diese Frage lässt sich anhand der absoluten Zahlen der Kinobesucher deutscher Kinofilme bereits beantworten: Lagen die Besucherzahlen in den 1990er Jahren zwischen 8 und 23,9 Millionen, so entwickelten sich diese in den vergangenen zehn Jahren auf 20,9 bis 39,9 Millionen. Ein deutlicher Anstieg ist hier zu verzeichnen — und das ist insbesondere deshalb überraschend, da sich aktuell die Gesamtbesucherzahlen sämtlicher im Kino gestarteten Filme auf einem vergleichbaren Niveau wie in den 1990er Jahren bewegen (nämlich zwischen 120 Millionen und 140 Millionen Kinogängern).

Entsprechend positiv liest sich die Entwicklung des Marktanteils deutscher Produktionen an den Kinobesucherzahlen der vergangenen 25 Jahre.

Marktanteil Kinobesucher deutscher Filme (in Prozent)

Waren in den 1990er Jahren noch einstellige Prozentzahlen bei den Marktanteilen der Kinobesucher deutscher Filme an der Tagesordnung, so stieg diese auf regelmäßig über 20 Prozent an. Wo nach der Wende nur jeder zehnte Kinobesucher einen deutschen Film an der Kinokasse wählte, sieht sich inzwischen jeder fünfte Kinobesucher eine Produktion aus Deutschland an. Die These, dass weniger Filme einen positiven Effekt auslösen (wie aktuell z.B. von der AG Kino in ihrer Stellungnahme zur Novelle des Filmfördergesetzes gefordert: „Ein Paradigmenwechsel zu mehr Qualität statt Quantität ist geboten.“), muss damit als widerlegt gelten. Zumal sich die filmische Qualität deutscher Filmproduktionen konstant verbessert hat — wie bereits die Erfolgsstory von deutschen Filmfestivals belegt, wo die Besucherzahlen im Verhältnis meist deutlich höher sind als später beim Bundesstart. Dort starten die Filme in einem attraktiveren, moderierten und zudem kuratierten Umfeld, was umgehend vom Besucher belohnt wird. Dies lässt vor allem einen Schluss zu: Die Vermittlung deutscher Filmproduktionen muss sich ändern. Der Fehler liegt nach meiner Ansicht im System der Auswertung, in den Bereichen Kino und Verleih. Jedem Film müsste seine optimale Auswertung geboten werden, und zwar unabhängig von Sender- und Förderbeteiligungen. Eine Öffnung hin zu parallel stattfindenden Starts von Filmen auf digitalen Vertriebswegen und im Internet würde gerade die kleinen Filme stärken und die Kinolandschaft in Deutschland endlich im 21. Jahrhundert ankommen lassen. Es ist an der Zeit, dass das Filmfördergesetz die bisherigen verkrusteten Strukturen aufbricht und sich die Kinos nicht weiter gegen derlei Veränderungen sträuben.

 

Durchschnittlich sahen seit der Wiedervereinigung 22,9 Millionen Menschen pro Jahr einen deutschen Film. Seit 2011 liegt die Besucherzahl über dem Durchschnitt.

Es ist retrospektiv interessant, dass gerade im Jahr nach einem Einschnitt (v.a. nach dem Sturz von 39,9 Millionen auf 20,9 Millionen in den Jahren 2009/2010) der Aufschrei in der Branche immens war. Diskussionsveranstaltungen waren an der Tagesordnung, wo man über die Wege zur Eindämmung der stets steigenden Filmproduktionen sprach. Liest man die Zahlen in einem Vergleichszeitraum von 25 Jahren, kann ich nur die ausdrückliche Empfehlung zu mehr Gelassenheit im Umgang aussprechen. Auch wenn die Entwicklung der Besucherzahlen deutscher Filme wellenförmig und mit einzelnen Ausreißern nach unten verläuft: Die Entwicklung des deutschen Films seit der Wiedervereinigung ist eine Erfolgsgeschichte. Und 2015 verspricht ebenfalls ein positives Jahr zu werden — die Halbjahresbilanz wies bereits einen Anteil von 26,8 Prozent Marktanteil von Kinobesuchern deutscher Filme auf.

Abschließend sei noch ein Blick auf die Verteilung der Besucher auf die einzelnen Filme erlaubt: Bedeuten weniger produzierte Filme im 25-Jahres-Vergleich mehr Besuchermillionäre unter den deutschen Filmproduktionen?

 

Durchschnittlich 5,8 deutsche Filme übertrafen seit der Wiedervereinigung pro Jahr die Schallmauer von 1 Million Kinobesuchern. Dabei ist auffällig, dass die Besuchermillionäre mit Beginn der einsetzenden Digitalisierung und der Zunahme an startenden Filmen sich leicht erhöhten — auch wenn die Differenz hierbei fast zu vernachlässigen ist. Jedenfalls trifft auch hier nicht zu, dass weniger parallel startende Produktionen automatisch den Erfolg der Filme mit großem Budget stärken. Die folgende Grafik zeigt die prozentuale Entwicklung der Besuchererfolge:

 

Zur Verdeutlichung der Entwicklung ist der Blick auf die Besuchererfolge einzelner Jahre im Zehn-Jahres-Abstand hilfreich (1991, 2001, 2011), hinzugefügt wurde außerdem der aktuellste Datensatz aus dem Jahr 2014.

 

 

Die überraschende Erkenntnis: Der Marktanteil der weniger erfolgreichen Filme unter 100.000 Besuchern ist dabei überraschenderweise seit der Wiedervereinigung sogar leicht gesunken. Die Entwicklung der Produktionen mit sechsstelligen Besucherzahlen verläuft steigend. Die Anzahl der Besuchermillionäre bleibt schwankend, aber weitgehend auf einem konstant vergleichbaren Niveau. 

Welches Fazit lässt sich aus diesen Zahlen ziehen? 

Der deutsche Film hat mit großer Sicherheit kein Quantitätsproblem. Er hat nach meiner Ansicht auch kein Qualitätsproblem. Er hat ein Vermittlungsproblem. Und das gilt es zu lösen. Das neue Filmfördergesetz könnte der erste Schritt dazu sein.

(Urs Spörri)

Urs Spörri kuratiert und moderiert beim deutschen Filminstitut in Frankfurt/M. u.a. die Filmreihe „Was tut sich — im deutschen Film?“ samt ausführlichen Werkstattgesprächen mit den Filmemachern. Seine regelmäßigen Festivalstationen sind der Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken, die Berlinale, das Filmfest München, das Festival des deutschen Films in Ludwigshafen sowie die Hofer Filmtage. Außerdem hat er selbst jahrelang das FILMZ Festival in Mainz in führender Position mitverantwortet.