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Wie der Mainstream sich bei der Avantgarde bedient

Ein Beitrag von Patrick Holzapfel

In Ron Howards In the Heart of the Sea gibt es mehrere Bilder, die an Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel erinnern. Mit extremen Weitwinkelobjektiven filmt dort Kameramann Anthony Dod Mantle das schmutzige Holz des Schiffdecks, das Blut zappelnder Fische oder taucht ab und auf in wogenden Wellen, um nach Fischen schnappende Möwen aus extremer Nähe zu sehen.

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In the Heart of the Sea von Ron Howard
In the Heart of the Sea von Ron Howard

Diese Einstellungen gibt es so ähnlich auch – wenngleich völlig anders hergestellt – in der von der Sensory Ethnography Lab produzierten Tiefseehypnose.

Es erscheint ziemlich logisch, dass sich die Filmemacher der Hollywood-Großproduktion für den experimentellen Überraschungserfolg interessieren, schließlich geht es hier wie dort um eine Immersion, die einen das Meer spüren lassen soll, es geht um eine Jagd und die Fiktionen dieser Jagd an der Küste New Bedfords und der ganzen Welt, die Herman Melville zu Moby Dick inspirierten. Dementsprechend wurde Leviathan auch in öffentlichen Statements als Inspiration genannt. Der Zuseher soll sich so fühlen als wäre er mittendrin in dieser Welt, und Dod Mantle, der unter anderem die Kamera bei Slumdog Millionaire führte, ist bekannt für dieses Hineingehen in die Welten, dieses Abtauchen, dass eine sinnliche Wahrnehmung der Umgebung erzeugen soll.

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(Trailer zu In the Heart of the Sea)

 

Nur ist das so einfach? Manchmal erschrickt man fast ein wenig, wenn man die Oberflächlichkeit betrachtet, in der Kadrierungen oder Farben hier kopiert werden. Lebt Leviathan von einer unkontrollierten Direktheit und einem kollaborativen Bestreben, die Realität aus ungewöhnlichen Perspektiven einzufangen, wirft In the Heart of the Sea – wie man das so kennt von Dod Mantle und Ron Howard – eine fast unerträgliche Künstlichkeit in seine Bilder, in der man keiner Welle und keiner Möwe trauen kann. Hollywood klaut hier die Wirkung der avantgardistischen Traummaschinen, nicht aber die Herstellungsweise (zum Beispiel: In Leviathan gibt es ein Dutzend GoPro-Kameras, in In the Heart of the Sea komplexestes 3D-Equipment), die Wahrnehmung und Schönheit. Was scheinbar niemand dort bemerkt: man sieht es als Zuseher. Letztlich fühlt man sich in In the Heart of the Sea keineswegs wie auf hoher See. Irritierenderweise bemerkt man in diesem Fall im Hollywoodfilm mehr von der Herstellung als in der experimentellen Dokumentation. Es gibt einfach einen Widerspruch zwischen diesen rauen Zwischenschnitten und den Spezialeffekten, zwischen der extremen Nähe dieser kurzen Bilder und der ansonsten um Klarheit bemühten Bildsprache, zwischen dem Treiben im Meer und der extrem offensiven Farbkorrektur. Nun soll es hier nicht darum gehen, Hollywood in seinen Methoden bloßzustellen oder irgendeine sowieso unnötige Kategorisierung oder Distinktion von Filmformen vorzunehmen. Vielmehr sind die Spannungen zwischen künstlerischeren und kommerzielleren Filmformen äußerst produktiv.

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(Trailer zu Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel)

 

Denkt man daran, was Vertreter des poetischen Kinos wie Peter Tscherkassky oder Jack Smith aus dem Mainstream gefiltert haben, versteht man, dass es sich hierbei um eine Wechselwirkung handelt. Das Kapital und die Träume, die Perversion und die Story, die Wahrnehmung und die Kontrolle, das Material und die Emotion … die Grenzen verschwimmen. Es ist ein wenig, als würden die Avantgardisten seit jeher die Träume erzeugen, für die die schiere Größe, der Glamour oder die Stars des industriellen Kinos ihnen das Material liefern. Dagegen scheint es oft so, als würde der Mainstream aus den Träumen der Avantgarde Geld machen. Keinesfalls darf man aber den Fehler machen, nur den Traum oder die Immersion als Errungenschaft des avantgardistischen Filmemachens zu sehen, auch wenn sie oft – zum Beispiel im Fall der Hitchcock/Dalí-Kollaboration für Spellbound – am attraktivsten für Hollywood scheint (nicht, dass Hitchcock jemanden gebraucht hätte für das Unterbewusstsein…).

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(Ausschnitt aus Spellbound von Alfred Hitchcock)

 

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Technologie. So beschäftigte ausgerechnet George Lucas, der Herrscher des kapitalistischen Filmemachens, viele Experimentalfilmer in der Postproduktion von Star Wars. Einer von ihnen war kein geringerer als Pat O‘Neill, der sich unter anderem für den leichten Heiligenschein um Obi-Wan Kenobi verantwortlich zeigte. Techniken wie optical-printing kamen aus der Avantgarde und fanden große Resonanz im Mainstream. Ein anderes Beispiel, bei dem sich auch die Problematik der Kollision dieser Welten zeigt, ist Oskar Fischinger, der 1940 die Bach-Sequenz für Disneys Fantasia gestaltete, ehe man sich in großem Ärger trennte, weil Disney das Design veränderte, um es zugänglicher für das Publikum zu machen. Ein Großteil avantgardistischer Filmemacher arbeitet heute in universitären Betrieben, aber immer noch ist auch die Filmindustrie eine mögliche Verdienstquelle für die Erfinder und Antagonisten des Kinos.

Allerdings erleben wir im Bezug zur technischen Pionierarbeit heute durchaus Veränderungen. Ein großer Teil des poetischen Kinos lebt eine radikale Nostalgie für das filmische Material aus. Ob sie damit Filmemacher wie Quentin Tarantino oder Christopher Nolan beeinflussen, die sich auch für das Drehen auf Film einsetzen, sei bezweifelt, da es zwischen dem Luxus Hollywoods, sich Film zu leisten, oder der Idee, als Einzelkämpfer nach Möglichkeiten zu suchen, das Material überhaupt noch entwickeln lassen zu können, doch große Unterschiede gibt. Die Erneuerungen der Filmavantgardisten verweisen heute auch immer auf die Vergangenheit. Hier liegt letztlich ein politischer Unterschied, den das Mainstreamkino nie überkommen kann. Das beständige Überdenken, Durchkreuzen und Hinterfragen bestehender Kategorien und das Fortschrittsdenken, für das Hollywood wie kein zweites Label steht, kann und darf trotz aller Bemühungen nie mit kleinen ästhetischen Aneignungsprozessen verwechselt werden.

Denn was ein Film wie In the Heart of the Sea letztlich nicht versteht ist, dass gerade die Zufälligkeit und Einzigartigkeit der Bilder von Leviathan deren Attraktivität ausmacht. Es ist ein Film, in dem wir nicht mehr den Überblick haben, oft nicht mehr erkennen können, sondern nur fühlen, erahnen. Und dann fühlt man sich wie mitten in diesem schrecklichen Blutbad auf dem Meer. Der Filmavantgardist ist in diesem Zusammenhang kein Aufklärer, sondern ein Verunklärer. Künstler der Wahrnehmung, der sich wehren muss gegen Institutionalisierung, Akademisierung und Politisierung. Und so ist auch die Rollenverteilung in diesem Fall: Die Avantgardisten Castaing-Taylor und Paravel sind Propheten, Howard ist blind und kann sie nicht verstehen, weshalb er blind bleibt. Der französische Philosoph Alain Badiou hat einmal eine Filmgeschichte vorgeschlagen, die sich durch die Einflüsse hindurch arbeitet. Er sagte, dass ein Einfluss entweder reicher werden würde (dafür nannte er als Beispiel die Nahaufnahmen bei Griffith, die bei Dreyer spirituell wurden und bei Bresson Seelenbilder) oder ärmer. Letzteres geschehe immer dann, wenn ein Bild dem Einfluss nichts hinzugeben könne, wenn es nur als Einfluss bestünde. Oft macht Mainstreamkino genau das mit avantgardistischen Ideen. Man denke an die oberflächlichen Ideen von verbranntem Filmmaterial in Fight Club, die im Gegensatz zu der Verwendung ähnlicher Techniken bei Hollis Frampton keine Relation zu einer größere Idee wie Erinnerung haben. Oder an andere Querverbindungen wie jene zwischen Superman von Richard Donner und The Text of Light von Stan Brakhage, One Hour Photo von Mark Romanek und Mothlight von Brakhage oder die zahlreichen Mainstream-Aneignungen von Maya Derens Meshes of the Afternoon, bei denen niemand auf die Idee kam, die surreale Poesie im filmischen Apparat zu suchen, sondern immer nur in der Oberfläche der Bilder. Das ist natürlich kein Verbrechen und manchmal sind diese oberflächlichen Inspirationen sehr schön, aber letztlich werden sie nicht anders eingesetzt als die Bilder aus Modekatalogen in dem Büro der Kostümbildnerin. Und dann steht das Kino still.

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(Meshes of the Afternoon von Maya Deren, mit der Musik von Seaming)

 

Es gibt natürlich auch einige Ausnahmen. So hat sich Martin Scorsese für seine frühen Arbeiten von Kenneth Angers höllischen Fieberritualen inspirieren lassen und das zeigt sich durchaus in Filmen wie Mean Streets oder Who’s That Knocking at my Door?. Scorsese geht es weniger um Bildzitate oder oberflächliche Techniken als das Gefühl, das er in ein konkretes Milieu bringt.

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(Trailer zu Mean Streets von Martin Scorsese)

 

Auch die Queer Sensibility, die von Filmemachern wie Jack Smith innerhalb und außerhalb seiner Filme gelebt wurde, hat mehr und mehr ihren Eingang in industriellere Formen des Kinos gefunden. Was bleibt, sind der Skorpion auf der Jacke von Ryan Gosling in Drive, den Nicolas Winding Refn als Hommage an Kenneth Angers Film Scorpio Rising interpretiert haben will, und die Frage, wann Michael Haneke sich von anderen österreichischen Filmemachern wie Peter Tscherkassky oder Peter Kubelka inspirieren lässt. Im Sinne von letzterem könnte man die Verbindungen zwischen den beiden Polen Avantgarde und Mainstream als etwas Organisches verstehen. Und in dieser Opposition bewegen sich zahlreiche Filme, die beides zugleich und nichts davon sind. In dieser Feststellung wird Film dann zu jener hohen See, die wir in Leviathan erleben und sehen können, während wir in In the Heart of the Sea nur ein auf eine Jacke gestricktes Muster dieser Erfahrung sehen.

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