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Locarno 2015 – Ein Filmtagebuch: Alte Meister und frischer Wind.

Meinungen

Zum Glück hat es angefangen zu regnen. Seit dem Wochenende frischt ein Gewitter nach dem anderen die schwül-heiße Luft am Lago Maggiore auf — und das ist auch bitter nötig. An den letzten Tagen war es so unangenehm und drückend, dass die Filmauswahl drohte, weniger von künstlerischen Kriterien als vielmehr von der existenziellen Frage bestimmt zu werden, welches Kino denn über eine möglichst effektive Klimaanlage verfügt. Schließlich muss man Prioritäten setzen.


(Bild Piazza Grande, copyright: BjoernEisbaer / CC-BY SA 3.0, via wikimedia )

Zum Glück gab es aber auch auf der Leinwand äußerst Erfrischendes zu sehen. So donnerte Andrzej Zulawskis neuer Film Cosmos wie eine kühle Brise in den Wettbewerb des Festivals. Kaum zu glauben, dass der franko-polnische Regisseur in diesem Jahr 75 wird — so voller Vitalität, Spieltrieb und mitunter auch anstrengender und herausfordernder Energie nimmt sich der Film aus, der auf vielen Ebenen das Zusammenspiel von Literatur und Film, Realität und Fiktion, Leben, Wünschen, Ängsten und Begierden verhandelt. Dabei gelingt ihm das Kunststück, zugleich rätselhaft und sehr unmittelbar zu sein. Worum es geht? Das ist gar nicht so einfach zu fassen. Fest steht Folgendes: Ein Student und angehender Schriftsteller begibt sich mit einem Freund für eine kleine Auszeit aufs Land, wo sie in einer kleinen, familiengeführten Pension Unterschlupf finden. Sie wird bevölkert von einer Ansammlung höchst eigenwilliger Charaktere, die alle auf ihre je eigene Weise ein seltsam exzentrisches Verhalten an den Tag legen. Hinzu kommen bizarre Zeichen (unter anderem im Wald aufgehängte Tierkadaver), die andeuten, dass hier etwas nicht stimmt.


(Clips zu Cosmos von Andrezj Zulawski)

Immer wieder springt der Film, wechselt die Ebenen zwischen eigentlicher Handlung und Meta-Bezügen, die auch die literarische Vorlage — den Roman Cosmos des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz — in den chaotischen Tanz der Metaphern und Symbole mit einbeziehen. So heißt der junge Schriftsteller ebenfalls Witold, der zudem den Roman, auf dem seine Geschichte basiert, genau zu kennen scheint. Ziemlich am Ende des Films sagt er über dessen Schöpfer: „Gombrowicz wusste ebenfalls nie, wie man eine Geschichte zu Ende bringt oder was für einen tieferen Sinn sie beinhaltet.“ Wenn dann am Ende verschiedene alternativen Enden den Film beschließen, spürt man, wie nahe Zulawskis erstes Werk seit 15 Jahren den phantastischen Spielereien der Vorlage nahegekommen ist. Ein absurde Komödie, die einerseits in ihrer hysterischen Unmittelbarkeit deutlich an Zulawskis Possession erinnert und sich andererseits anfühlt, als hätten Luis Buñuel und Yorgos Lanthimos gemeinsam einen Film gemacht und dabei viel Spaß gehabt — auch deswegen, weil sie dem Publikum mehr als nur eine harte Nuss zu knacken gaben. Mit Sicherheit jetzt schon eines der Highlights des Festivals — auch wegen des äußerst warmen Empfangs, den das Publikum Zulawski mit minutenlangem Beifall vor dem Beginn der Vorführung bereitete. Eine Geste, die den Filmemacher (und nicht nur ihn) sichtlich zu Tränen rührte.


(Filmbild aus Cosmos von Andrzej  Zulawski; Courtesy: Locarno Filmfestival 2015)

Als Enttäuschung hingegen erwies sich Nicolas Parisers Film Le grand jeu, der sich an einem Politthriller versuchte, aber scheiterte. Im Kern geht es um eine Intrige des Strippenziehers Joseph Paskin (André Dussollier), der versucht, den Innenminister Frankreichs loszuwerden. Zu diesem Zweck bedient er sich des gescheiterten Schriftstellers und enttäuschten Ex-Linken Pierre Blum (Melvil Poupaud), der unter einem Pseudonym eine revolutionäre Streitschrift veröffentlicht, die die Ereignisse ins Rollen bringen soll. Doch Blum muss schnell erkennen, dass noch ganz andere Kräfte ihre Finger im Spiel haben. So gerät er zwischen die Fronten und verliebt sich zudem noch in die Aktivistin Laura (Clémence Poésy).


(Filmbild aus Le grand jeu; Courtesy: Locarno Filmfestival 2015)

Das Hauptproblem an Le grand jeu: Die Akteure und Kreise, die hier gezeigt werden, sind so klein und überschaubar, die Verbindungen so persönlich, das Ganze so eng angelegt, dass sich das beabsichtigte Bild einer großen Verschwörung niemals einstellen will. Hinzu kommen Glaubwürdigkeitsprobleme wie das von Paskin in Auftrag gegebene Buch, das natürlich wie eine Bombe einschlägt, und die aufgesetzt wirkende Liebesgeschichte zwischen Pierre und Laura, die aus diesem Thriller allenfalls einen zögerlichen Gehversuch machen — und Sehnsucht wecken nach Könnern des Genres wie Constantin Costa-Gavras, von dem Nicolas Pariser noch einiges lernen könnte.

Besser hat es da Alex van Warmerdam gemacht. Nach seinem verstörenden Borgman, der letztes Jahr in Cannes prämierte, tummelt sich sein brutal geradliniger Neo-Western Schneider vs. Bax hier in Locarno. Und wie immer bei van Warmerdam wird nicht viel gefackelt: Schneider ist ein Auftragsmörder. Bax auch. Ein undurchsichtiger Klient setzt beide ohne deren Wissen auf einander an. Und so finden sie sich alsbald bei einer kleinen Hütte wieder, die am Arsch der Welt und mitten zwischen Schilf und Morast steht. Noch ein paar andere unglückliche Figuren finden ihren Weg in die Schusslinie der zwei wortkargen Männer. Van Warmerdam ersetzt, da er, wie er selbst sagte Lust auf was ganz Geradliniges hatte, Emotionen und Dialoge konsequent mit knallharter Genre-Action. Das macht er aber so geschickt und witzig, dass man nicht das Gefühl hat, eine gewisse Tiefe zu vermissen. Oder besser, der Film ist zu schnell und unterhaltsam, als dass man darüber auch nur nachdenken würde. Gleichsam macht sich der Regisseur über das hypermaskuline Duell der beiden Männer lustig, die nur an eines denken: den anderen töten. Dabei hinterfragen sie dieses Unterfangen nicht einmal. Das tun nur die Frauen — Bax`Tochter und eine Prostituierte, die an Schneider gerät und von ihm gekidnappt wird. Die beiden Frauen haben stets mehr Sinn für die Situation und diese auch noch besser unter Kontrolle als die Kerle mit den Knarren. 


(Trailer zu Schneider vs. Bax)

Auch in Floride sind es die Frauen, die alles organisieren und kontrollieren. Das liegt aber vor allem daran, dass der 80-jährige Claude an Demenz leidet. Was er selbst natürlich absolut bestreitet und denkt, dass alle um ihn herum verrückt sind. Vor allem seine Tochter Carole, die ihn pflegt und von der der alte Mann denkt, dass sie eine pessimistische Frau ist, die keinen Spaß am Leben hat. Dabei ist Carole vor allem überfordert und ausgelaugt von der Pflege. Claude versteht dies aber nicht und versucht ihr immer wieder zu erklären, sie müsse sein wie seine Tochter Alice, die vor Jahren nach Florida ausgewandert ist. Überhaupt ist Claude obsessiv mit Alice. Er will sie besuchen. Kurzum setzt sich der demente Mann also in einen Flieger. Doch Alice ist vor 9 Jahren bei einem Autounfall gestorben — ein Fakt, den Claude vergessen hat. Ein bisschen zwiespältig ist dieser französische Film. Einerseits behandelt er das Thema liebevoll und konsequent und nutzt dabei seine filmischen Mittel, um dem Zuschauer die Welt des dementen Claude näher zu bringen. So ist die Erzählung nicht annähernd kohärent, sie springt durch Zeiten und Orte mit großen Ellipsen, eben so, wie Claudes Hirn seine Umwelt noch wahrnimmt. Das ist ein cleverer Trick, der mehr von dieser Erlebenswelt zu vermitteln vermag als jeder Versuch der dialogischen Beschreibung. 


(Trailer zu Floride)

Allerdings ist Floride eben auch ein ganz typischer Heulerfilm — und diese Art Filme spielen hier jedes Jahr zuhauf bei den Open-Air-Vorführungen auf der Piazza Grande. Natürlich ist dies eine tragische Geschichte, aber wenn man bemerkt, dass ein Film durch seine Inszenierung geradezu aggressiv versucht, jede Träne aus dem Publikum zu wringen, dann wird es unangenehm. Dieses Gefühl hat man auch bei Floride. Das ist schade. Und so sinnlos, denn ohne dieses ärgerliche Tränendrüsendrücken hätten viele Augen von ganz allein und aus eigenem Antrieb heraus geweint. 

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