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Der Kanadier Bruce LaBruce meldet sich mit seinem neuen Werk „Saint-Narcisse“ zurück – einer Melange aus moderner Mytheninterpretation, pornösem Sleaze-Film und Familiendrama.

Saint-Narcisse (2020)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

A Family Affair

Der griechische Mythos von Narziss, des schönen Jünglings, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte – erzählt als erotischer Exploitationfilm. Das lässt an die schillernden 1970er Jahre denken, als Werke wie Massimo Dallamanos „Das Bildnis des Dorian Gray“ mit Helmut Berger in der Titelrolle entstanden. Es ist deshalb natürlich absolut schlüssig, dass die Queer-Cinema-Ikone Bruce LaBruce den Film „Saint-Narcisse“ in ebenjener Dekade ansiedelt.

Alles beginnt in einem Waschsalon in Quebec – mit einer Szene, die wie die Softporno-Variante eines Levi’s-Werbespots wirkt. Während Dominic (Félix-Antoine Duval) darauf wartet, dass der Wäschetrockner seine Arbeit verrichtet, kommt es zum kurzen Flirt mit einer neugierigen Dame (Jillian Harris), der in spontanem Koitus vor Ort – mit verblüfften Zeug_innen vor dem Schaufenster – gipfelt. Ach hoppla, nur eine Sex-Fantasie von Dominic… aber war dieser Moment, als er sich von einem jungen Mann beobachtet fühlte, der wie er selbst aussah, auch bloß Einbildung? Wir werden sehen.

Zunächst einmal lernen wir Dominics Großmutter Marie (Angèle Coutu) kennen, um die sich der Enkel mit großer Fürsorge kümmert. In den Passagen zwischen Dominic und Marie erreicht Saint-Narcisse eine Zärtlichkeit, mit der LaBruce bereits in der Romanze Geron (2013) überraschte, die sich – gut versteckt – jedoch auch schon in seinen wilden Frühwerken, etwa No Skin Off My Ass (1991) oder Hustler White (1996), und nicht zuletzt in seinem furiosen Zombie-Meisterstück Otto; or, Up with Dead People (2008) fand.

Das von LaBruce und Martin Girard verfasste Skript schickt Dominic indes bald auf eine Reise, nachdem er Briefe seiner bis dato unbekannten Mutter Beatrice (Tania Kontoyanni) gefunden hat. Diese gilt in dem Dorf, in dem er sie aufspürt, als „Hexe“, die obendrein – Skandal! – mit der jungen Irene (Alexandra Petrachuk) zusammenlebt. Saint-Narcisse nimmt hier Züge eines seifigen Melodrams an, inklusive kitschiger Rückblenden, in denen eine 25-jährige Beatrice (Myriam Côté) Entbindung, Trennung und ein lesbisches Liebesdrama durchmacht. Das alles wird so ernst gespielt, dass purer Camp dabei herauskommt – jedwedes Augenzwinkern hätte diese Anmutung gewiss zerstört.

Und dann gibt es selbstverständlich noch sehr viel Sex, klar. Dominic wird auf eine Gruppe knackiger Mönche aufmerksam, von denen einer, Daniel (ebenfalls Félix-Antoine Duval), sein genaues Ebenbild ist. Die Gelüste schießen fortan in alle Richtungen. Irene begehrt Dominic, Dominic begehrt Daniel und Daniel leidet unter dem Begehren des missbräuchlichen und obsessiven Father Andrew (Andreas Apergis). Hier drängen Elemente des Rape-and-Revenge-Movies in die Geschichte, die nicht so recht zu funktionieren vermögen. Stimmiger ist die Konstruktion einer queeren Familie, auf die Saint-Narcisse zusteuert. Was bei anderen als billige Provokation daherkommen könnte, hat bei LaBruce etwas angenehm Tröstliches: eine Mutter und ihre Kinder, vereint in Liebe und hervorgegangen aus dem Kampf gegen Zwang und Gewalt.

Ein böses Ende muss der Narziss dieser Version nicht nehmen. Und auch das ist ungemein tröstlich. Dominics Eigenliebe zeigt sich darin, dass er – wohlgemerkt in den 1970er Jahren – Bilder von sich selbst mit einer Polaroid-Kamera macht. „Who does that?!“, meint Irene irritiert. Mehr braucht es gar nicht, um zu verdeutlichen, wie narzisstisch wir alle im heutigen Selfie-Zeitalter sind. Und trotzdem können wir Liebe finden, an ungewöhnlichen Orten, in unkonventionellen Konstellationen. The End.

Saint-Narcisse (2020)

Dominic ist schwer verliebt – und zwar in sich selbst. Sein Narzissmus grenzt schon an einen Fetisch, so fasziniert ist er von seinem Spiegelbild, auch und gerade beim Sex. Gemeinsam mit seiner liebevollen Großmutter, seiner engsten Bezugsperson, lebt er im kanadischen Québec der frühen 1970er Jahre. Als sie überraschend stirbt, findet Dominic einen Brief seiner totgeglaubten Mutter. Umgehend macht er sich auf die Suche nach ihr und wird auch bald fündig. Doch nicht nur das: Plötzlich steht Dominic seinem leibhaftigen Ebenbild gegenüber. Der gutaussehende junge Mann lebt im Kloster und steht in einer – gelinde gesagt – toxischen Beziehung zu einem der älteren Priester. Doch ist Dominics Doppelgänger der Zwillingsbruder, von dem er nichts wusste? Oder eine narzisstische Projektion? (Quelle: Filmfest München 2021)

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