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Bruce LaBruce interpretiert den Pasolini-Klassiker „Teorema“ neu – mit expliziten Sexszenen und großer Freude an der Umwälzung.

The Visitor (2024)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Geometrie der Triebe

In „Teorema – Geometrie der Liebe“ (1968) zeigt Pier Paolo Pasolini einen attraktiven jungen Mann, verkörpert von Terence Stamp, der eine großbürgerliche Mailänder Familie besucht, mit allen Personen des Haushalts nacheinander ein sexuelles Verhältnis eingeht und dann wieder verschwindet. Während mit seiner Ankunft die Sepiatöne in Farbe übergehen, hinterlässt seine Abreise bei sämtlichen Familienmitgliedern eine unerträgliche Leere.

Der sogenannte „Politpornograf“ Bruce LaBruce aus Kanada, der mit queeren Filmen wie The Raspberry Reich (2004) oder Otto; or, Up with Dead People (2008) auf radikale Provokation und krudes Vergnügen setzt, liefert mit The Visitor nun ein Remake des Stoffes, dem er gekonnt seinen eigenen Stempel aufdrückt. Der Plot wird ins heutige London verlegt. Hier wird ein nackter Geflüchteter (Bishop Black) – oder sind es gar mehrere? – in einem Koffer an das Ufer der Themse gespült. Bald landet er in der Villa einer Familie aus der Oberschicht, da die Hausangestellte (Luca Federeci) ihn als ihren Neffen ausgibt.

Auch in dieser Version fühlen sich der Vater (Macklin Kowal), die Mutter (Amy Kingsmill), die Tochter (Ray Filar), der Sohn (Kurtis Lincoln) und die Bedienstete augenblicklich zu dem mysteriösen Titelhelden hingezogen. Bei LaBruce erfolgt die erotische Revolution innerhalb der wohlsituierten Familie selbstverständlich entschieden expliziter als bei Pasolini. Mit seinem Kameramann Jack Hamilton zelebriert der Regisseur die sexuellen Akte in aller Ausführlichkeit.

So geht etwa bei der Verführung der Hausangestellten die religiös motivierte Selbstkasteiung mit Peitschenhieben gegen die „unkeuschen“ Gedanken in „Anal Liberation Now!“ über, wie es in einem Zwischentitel heißt. Die kurzen Texteinblendungen zählen zu den Highlights, an denen wir uns als Publikum erfreuen dürfen, während die Figuren ihre sexuellen Höhepunkte erleben. „Open Borders, Open Legs!“, „Eat Out the Rich!“, etc.

Von Bondage bis hin zum Gruppensex spielt LaBruce mit seinem Ensemble alles Denkbare durch. Das Split-Screen-Verfahren, die artifizielle Farbgebung, das Stroboskoplicht und die harten Beats fügen sich ebenso wie das völlig überzogene Schauspiel perfekt in das wilde Œuvre des Filmemachers. Kaum jemand kann Low-Budget-Produktionen so gut aussehen lassen wie er! Subtil ist die Kritik des Kanadiers an Konservatismus, Kapitalismus, Klassenunterschieden und Ausbeutung gewiss nicht – doch das ist hier auch überhaupt nicht das Ziel. Vielmehr kombiniert LaBruce Kink und bösen, oft trashigen Humor mit prägnanten politischen Statements.

Wenn zu Beginn (Fake-)Fäkalien verspeist werden, vermag das nicht an den Shock-Value der frühen John-Waters-Filme heranzureichen. Und auch die Wucht des bitteren Endes von Teorema kann die avantgardistische Porno-Variante nicht gänzlich erreichen. Es gelingt LaBruce aber, dem Original an manchen Stellen noch spannende moderne Ebenen hinzuzufügen – etwa dadurch, dass der Besucher in seiner Fassung ein Schwarzer Geflüchteter ist. Auch die diverse Besetzung der übrigen Rollen mit Leuten aus der queeren Szene macht The Visitor zu mehr als einem aufgesexten Remake. Während andere „ungezogene Kinder“ des Kinos mit der Zeit immer zahmer werden, bleibt sich LaBruce lustvoll und findig treu.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

The Visitor (2024)

Ein nackter Geflüchteter wird in einem Koffer an das Ufer der Themse gespült. Der mysteriöse Besucher streift durch London und klopft an die Tür einer wohlsituierten Familie. Er erhält Einlass und darf als Angestellter bleiben. In den nächsten Tagen verführt er alle Mitglieder der Familie – hart, rauschhaft, gruppiert. „Heiligen Sex“ hat er nur mit der non-binären Dienstperson. So plötzlich wie er gekommen ist, verschwindet der Besucher auch wieder – und lässt eine sexuell befreite, aber in ihrer kapitalistisch-bürgerlichen Identität grob verstörte Familie zurück.

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