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Prisma der Kulturen – Flucht und Migration im Film

Ein Beitrag von Niklas Michels

„Sieger Sein“ erzählt die Geschichte des geflüchteten Mädchens Mona, das versucht, in Berlin-Wedding Fuß zu fassen. Zum Anlass des Kinostarts werfen wir einen Blick auf die zeitgenössische Darstellung von Migration und Flucht im Film.

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Flucht und Migration

Sieger Sein von Soleen Yusef feierte auf der Berlinale 2024 in der an ein junges Publikum gerichteten Sektion Kplus Premiere. Der Film verbindet Kinder- und Sportfilm mit Protagonistin Monas Flucht aus Syrien. Im schulischen Fußballverein findet sie den ersehnten Zusammenhalt.

Flucht und Migration sind ethische Problemstellungen. Theoretiker wie Michael Walzer und Thomas Pogge haben einen beträchtlichen Fußabdruck im öffentlichen Diskurs hinterlassen. Doch außerhalb der feinen Nuancen herrscht in liberalen Kreisen Konsens über die Position, die beispielsweise ein Staat gegenüber Geflüchteten einnehmen sollte. Wie sieht es im Kino aus? Sieger Sein arbeitet mit hektischen Bildern und Vierte-Wand-Brüchen, um das Konzept Kultur in seine Einzelteile aufzuspalten. Anstatt sich Opfer für Pointen zu suchen, zelebriert der Film das Leben als Außenseiter*in.

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Das Kino kann jedoch auch als Lupe fein-säuberlich auf kulturelle Unterschiede verweisen. So handeln Filme wie Past Lives (2023) oder Return To Seoul (2023) eher hintergründig von Flucht, sondern heben das Akklimatisieren in eine fremde Welt hervor. Bereits in Chantal Akermans News From Home (1977) beobachtete die Regisseurin die unterschiedlichen Lebensrealitäten zwischen den USA und ihrer europäischen Heimat. Das Herausarbeiten kultureller Unterschiede kann Stimme einer Generation sein, die fremd im eigenen Land aufgewachsen ist. Sowohl Past Lives als auch Return To Seoul erzählen von einer Erwartungshaltung gegenüber heimatstaatlicher Verbundenheit, die aber vielleicht gar nicht existiert (oder erst gefunden werden muss).

So wie ein Prisma das Licht spaltet, so zeigt uns das Kino verschiedene Facetten dieser Thematik. Im Laufe des Textes wollen wir beide Qualitäten näher beobachten: das Spalten und das Vereinen.

Orte der Annäherung

Auffällig im zeitgenössischen Film ist die Verflechtung des Themas mit äußeren Umständen. Filme wie Sonne und Beton (2023) oder Rheingold (2022) sprudeln vor Diskurs, doch handeln nicht primär von Migration. Das Thema rückt in den Hintergrund, wird Kulisse und räumt Platz für Erzählungen ein, die sonst von politischer Dringlichkeit womöglich überschattet gewesen wären. Gerade im Genrefilm kann Vieles verhandelt werden, ohne dabei wichtigen Hintergrund ganz außer Acht zu lassen: Rapmusik, die zu Straßenpoesie wird, Lebensrealitäten. Auch Sieger Sein setzt sich seinen Tonus aus Popkultur zusammen. Deutungshoheit wird vom Sockel gestoßen; Film und Publikum sprechen dieselbe Sprache. Solche Filme können in unserer Multi-Krisen-Zeit Migrationsgeschichten mit anderen Erzählungen und Appellen vermengen, und sie so schlussendlich als vollkommen normal darstellen. In keinem aktuellen Film ist dies so gut verdeutlicht wie in Sisterhood (Originaltitel: HLM Pussy, 2023) von Nora El Hourch.

Filmstill aus „Sisterhood“ / © Memento International

Irgendwo zwischen Musik- und Homevideo lässt dieser Film die Leinwand zum Mittelfinger in das Gesicht der Intoleranz werden. Die migrationsbedingten Unterschiede im Habitus der Charaktere brodeln im Alltag. Während Sisterhood mit feministischen Worten affrontiert, ist er weder besonders experimentell noch formlos, sondern erzählt eine Geschichte, die wir sehr brauchen. El Hourch stellt dabei die Sozialen Medien als Waffe der Integration sowie der Emanzipation dar.

Im Gegensatz dazu findet der Film The Old Oak (2023) einen anderen Ort des Zusammenkommens. Michael Gasch schreibt in seiner Kritik: „Welcher Ort eignet sich besser als ein Pub? In der titelgebenden Bar findet das meiste Geschehen statt […], sie wird präzise unter die Lupe genommen“. Orte der Annäherung als Lösung: In Sieger Sein ist es der Fußballverein, in Sisterhood die Sozialen Medien und in The Old Oak die Kneipe.

Animation als moralische Distanz

Oh, welch süßer Widerspruch in der Animation liegt. So kann das Medium Unfilmbares in unendlicher Potenz abbilden und fungiert hier doch als Distanz zur Realität. Szenen, die sonst retraumatisierend sein könnten, sind in gemalten Bildern moralisch integer. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich bei nicht-animierten Filmen generell einer Ethik unterwerfen sollte, sondern grenzt die Animation vielmehr als Safer Space ab. Das beantwortet auch bereits aufkommende Fragen über die Wahl des Mediums – ist die Animation doch sonst vielmehr ein Möglichmachen von fantastischen oder surrealen Bildern. Flucht und Migration wiederum sind sehr real. Was auch dokumentarisch gefilmt werden könnte, wird in der Animation künstlich bebildert. Als Beispiel schaue man sich den Film Flee (2021) von Jonas Poher Rasmussen an. Dieser ist eine Synergie aus einer realen Stimme und fiktiven Bildern. Rasmussen interviewt seinen Freund Amin Nawabi, welcher aus Afghanistan geflohen ist. Das Kopfkino, welches aus den aufgezeichneten Gesprächen der beiden Männer entsteht, wird anhand flüchtiger Animationen angeregt oder manchmal unterbunden. Plötzlich findet das Prisma in unserem Kopf statt. Analog zu Roman und Verfilmung kollidieren Vorstellung und Bildwelt miteinander. Während der Film beinahe global ins Kino fand, gab es keinen deutschen Start.

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In Deutschland war hingegen (wahrscheinlich aufgrund der Mitarbeit des deutschen Animationsstudios TrickStudio Lutterbeck) der Film Die Sirene (2023) von Sepideh Farsi zu sehen. Dieser begleitet den jungen Omid bei seiner Flucht aus dem Iran. Kino-Zeit-Kritiker Harald Mühlbeyer schreibt: „[Der Film] trifft ins Mark. Gerade als Animationsfilm, der zeigen kann, was im Spielfilm unmöglich ist – eine Spannung zwischen der überwundenen Vergangenheit, einer ungewissen Zukunft und einer tödlichen Gegenwart”. Und damit hat er recht. Der Film zeigt den Zwischenzustand einer toten Welt, während eine neue noch nicht geboren ist – eine Zeit der Monster. Doch hat dieser Film auch Probleme: Teils trivialisierend, teils narrativierend, baut er eine Heldengeschichte, die eigentlich zu konventionell ist, um als Protest zu funktionieren. Der Spielfilm unterwandert die Animation.

Willkommen in Berlin-Wedding

Sieger Sein erzählt von der lauten und diversen Welt in Berlin-Wedding. Still und bewusst eintönig ist hingegen die Darstellung des iranischen Filmemachers Sohrab Shahid Saless, welcher 1976 mit seinem Film Reifezeit als Fremder einen Blick auf Wedding warf. Saless erzählt als Geflüchteter eine Geschichte einer deutschen Familie, wobei der Blick hinter die Fassade der finanziellen Tragödie signifikant aus der Unvoreingenommenheit des „Anderen“ geschieht. Erst seit kurzem sind die Filme von Saless wieder sichtbar. Filmhistorikerin Vivien Buchhorn zeigt diese anhand des Shahid Saless Archive in der Rubrik Berlinale Classics. Reifezeit war dieses Jahr zu sehen.

Der Film handelt von Michael, dessen Mutter als Prostituierte gerade so die Miete zahlen kann. So fangen Michaels immer gleiche Tage mit dem morgendlichen Heimkommen seiner Mutter an. Während die bereits erwähnte Chantal Akerman ebenfalls einen solchen Blick aus der Ferne zu haben scheint, wenn sie ewig gleichförmige Zyklen aus Tagen baut, bilden diese Zyklen bei Saless lediglich das Skelett des Films. Ein Vergleich zu Akermans Jeane Dielmann (1975) und seinem Limbus des Alltags liegt zunächst auf der Hand, funktioniert jedoch nicht vollkommen. Szenen aus Klassenräumen der Weddinger Schulen, aus Sieger Sein und Reifezeit, könnte man nebeneinander halten und erhielte zwei Seiten derselben Medaille; eine laut, die andere sehr leise.

Flucht als Genre

„Open Borders, Open Legs“: Die wohl unwahrscheinlichste Flucht- und Migrationsgeschichte erzählt der „Politpornograf“ Bruce LaBruce in seiner satirischen Adaption von Pier Paolo Pasolinis Klassiker Teorema — Geometrie der Liebe – umbenannt in The Visitor (2024). In diesem pervertiert der Regisseur eine ursprünglich überwiegend marxistische Bourgeoisiekritik hin zu einem Fetischpornofilm, in dem ein mysteriöser Besucher per Koffer nach England „angespült“ wird und rassistische Vorurteile in eine Befreiung in Form der sexuellen Reservation umkehrt. Schauspieler Bishop Black, der in seiner zugespitzten Rolle den gesammelt-klischierten Migranten symbolisiert, infiltriert eine Familie und zerstört die ideologische Verblendung jedes Familienmitgliedes nacheinander. Sexpositiv wäre dabei mehr als eine Untertreibung. Andreas Köhnemann schreibt in seiner Berlinale-Kritik zum Film: „Bei LaBruce erfolgt die erotische Revolution innerhalb der wohlsituierten Familie selbstverständlich entschieden expliziter als bei Pasolini. […] So geht etwa bei der Verführung der Hausangestellten die religiös motivierte Selbstkasteiung mit Peitschenhieben gegen die „unkeuschen“ Gedanken in „Anal Liberation Now!“ über, wie es in einem Zwischentitel heißt“. Dass The Visitor im Dezember tatsächlich einen deutschen Kinostart erhält, ist mehr als erfreulich. Einen radikaleren Film gegen den Konservatismus kann man sich kaum vorstellen.

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Eher weniger mit Ruhm bekleckert hat sich wiederum der Genrefilm Nirgendwo (2024) von Albert Pinto, welcher vor kurzem auf Netflix erschienen ist und in die Kategorie „People Getting Stuck in Places“ fällt – eine nicht zu unterschätzende skurrile Randerscheinung. In diesem Film erleben wir den existierenden Kanon der Welt als Stolperstein, der einen sonst sicher durchschnittlichen Film geschmacklos werden lässt. Die Geschichte dreht sich um die schwangere Mia, welche in einer dystopischen Welt bei einem Fluchtversuch übers Meer in einem Transportcontainer strandet. Während der Film handwerklich gut funktioniert, fragt man sich doch, weswegen man eine komplette Dystopie entwickeln muss, um die europäische Protagonistin in eine Box zu stecken, während dies wortwörtlich Realität ist. Die Flucht in eine Drei-Akt Struktur zu bringen, hat einen bitteren Nachgeschmack. 

Nach diesem Rundumblick wird deutlich, wie vielseitig die Thematik zu besprechen ist und wie sie in jegliche Form des Films einsickern kann. Es lässt sich heutzutage immer weniger Vorurteile affirmierende Polemik finden, sondern Auseinandersetzungen auf Augenhöhe; dort reiht sich Sieger Sein verdient mit ein. Ob Leidensgeschichte oder Observation, das Medium präsentiert sich als Sprachrohr einer neuen Generation, das auf der einen Seite Unsichtbares und auf der anderen Seite Unterschiede sichtbar macht. Ob Prisma oder Lupe, Genre oder Arthaus: Das Kino ist der Ort der Annäherung.

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