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Sommer-Kino: Liebe, Lernen, Leichen

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Draußen ist Sommer – und auch auf der Leinwand wird diese Jahreszeit immer wieder gerne zelebriert, aktuell etwa in „L’ Amour du Monde“. Was können Filmfiguren im Sommer Schönes, Trauriges und Schauriges erleben?

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Kokon / Ava / l'Amour Du Monde
Kokon / Ava / L'Amour du Monde

In der schwarzen US-Komödie „The Opposite of Sex“ (1998) mit Christina Ricci macht sich die Erzählerin zu Beginn via Voice-Over über Filme lustig, in denen Figuren am Ende zu der kontemplativen Einsicht kommen, dass sie nach diesem Sommer nie wieder der- oder dieselbe gewesen seien. Ganz zum Schluss gelangt die Protagonistin des Films dann natürlich selbst zu exakt diesem Fazit: „I was never the same again after that summer…“

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Der Sommer, der alles durcheinanderwirbelt und grundlegend verändert, ist eine beliebte narrative Formel – und funktioniert in vielen unterschiedlichen Genres. Am besten womöglich in Coming-of-Age-Geschichten, ob komisch, tragisch, gruselig oder als Mischform. Für die beinahe 15-jährige Protagonistin Margaux (Clarisse Moussa) in Jenna Hasses zärtlichem Langfilmdebüt L’Amour du Monde (2023) ist der Sommer, den sie mit einem Praktikum in einem Kinderheim am Genfersee verbringt, in erster Linie eine Zeit des behutsamen Ausprobierens.

Selbstsuche und innere Reise

Nachdem Margaux im Kino in einer Retrospektive den alten Abenteuerfilm L’Atlantide (1932) von Georg Wilhelm Pabst gesehen hat, in dem Brigitte Helm als Herrscherin einer versunkenen Stadt auftritt, testet die Jugendliche später in ihrem nächtlichen Zimmer die verführerischen Posen des charismatischen Stars aus. Sie sucht sich im Laufe des Plots selbst, spielt mit Rollen und Verhaltensmustern und entwickelt langsam eine eigene Identität, ohne sich endgültig für eine Richtung zu entscheiden. Die Kamera entdeckt derweil die Schönheit der Umgebung.

Durch das Knüpfen besonderer Freundschaften zu der siebenjährigen Halbwaisen Juliette (Esin Demircan) und zu dem Taucher Joël (Marc Oosterhoff), der als Fischer jobbt, sammelt Margaux bei der Arbeit, im Schwimmbad, bei Spaziergängen am Ufer und bei Bootstouren reichlich Erfahrungen und Erkenntnisse. Sie ist am Ende des Sommers gewiss nicht mehr dieselbe – aber wer genau sie nun ist, das darf Margaux ruhig noch über diesen einen Sommer und somit über die gezeigte Filmhandlung hinaus eruieren.

Gefühle am Strand

Mit Pauline am Strand (1983) und Sommer (1996) hat der französische Regisseur Éric Rohmer zwei äußerst stimmungsvolle Urlaubsfilme gedreht, in denen zum einen die nötige Leichtigkeit zu spüren ist, die mit der warmen Jahreszeit und mit dem Strand als Schauplatz assoziiert wird, und in denen zum anderen in distinguierten Dialogen über aufwühlende Emotionen und (junge) Liebe gesprochen wird.

Pauline am Strand © prokino

Die Schwerelosigkeit, mit der die 15-jährige Titelheldin (Amanda Langlet) in Pauline am Strand in einem Ferienhaus in der Normandie sowie der Hochschulabsolvent Gaspard (Melvil Poupaud) in Sommer im Erholungsort Dinard in der Bretagne in ihre jeweilige freie Zeit der Zerstreuung starten, geht stets mit dem Wissen einher, dass selbst der schönste Sommer voller amouröser Vergnügen einmal enden wird.

Werden die frischen Beziehungen die Hochphase der sonnigen Tage dann überdauern? Wird es gelingen, die hübsche Nonchalance dieser kurzen Periode mitzunehmen in den mal stressigen, mal monotonen Alltag? Diese Unklarheit verleiht den meisten Urlaubsfilmen immer auch etwas Melancholisches. Statt eines Happy Ends gibt es bei Rohmer das vage Bild einer potenziellen Zukunft – die Hoffnung auf kommende Sommer.

Das Ende einer Ära – und der Beginn von etwas Neuem?

In American Graffiti (1973) von George Lucas ist der Sommerabend, den wir mit den Figuren verbringen, vor allem ein Abschied. Anfang der 1960er Jahre in der kalifornischen Kleinstadt Modesto bleibt den Kumpels Steve (Ron Howard) und Curt (Richard Dreyfuss) nur noch eine letzte laue Nacht mit ihren Freunden und Liebschaften. Nicht zuletzt durch die Pop-Musik wird das Ganze zu einer bittersüßen Erfahrung – auch durch das Wissen, dass es sich hier um die Jugenderlebnisse der späteren Vietnam-Generation handelt.

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Wenige Jahre zuvor, Ende der 1950er, ist der Plot von Rob Reiners kongenialer Stephen-King-Adaption Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers (1986) angesiedelt, die ebenfalls darauf hinausläuft, dass eine Gruppe von Freunden in einem US-Vorort nach einem intensiven Sommer auseinanderbricht, aber dennoch aufgrund der gemeinsam durchgestandenen Initiation auf ewig miteinander verbunden sein wird. Durch eine Rahmenhandlung, die einen der Beteiligten als gedankenversunkenen Erwachsenen zeigt, wird der Hauptplot als nostalgisch gefärbte Erinnerung gekennzeichnet.

In Confusion – Sommer der Ausgeflippten (1993) von Richard Linklater, in dem wir am letzten Schultag einer Highschool-Clique im suburbanen Raum von Austin, Texas im Jahre 1976 teilhaben, ist für die Figuren wiederum vor allem die Vorstellung erschreckend, dass in der Post-Hippie-Zeit, in der sie sich befinden, kein Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen und zugewiesenen Positionen (mehr) möglich scheint. Sie wollen, wie es Woodie (Matthew McConaughey) an einer Stelle formuliert, „einfach weiterleben“, statt sich Normen zu unterwerfen – weshalb der Sommertag, den Linklater uns präsentiert, hauptsächlich aus wilden Partys, Alkohol und Drogen besteht.

Confusion — Sommer der Ausgeflippten © MFA+

Mit Wucht und Verve

Die Titelfigur in Léa Mysius’ Spielfilmdebüt Ava (2017) trifft es eigentlich noch wesentlich bitterer – doch die 13-jährige Ava (Noée Abita) zeigt sich entschieden kämpferischer, während sie ihre Sommerferien auf der Médoc-Halbinsel im südwestlichen Frankreich verbringt. Das Skript schildert einerseits eine typische Coming-of-Age-Story über die Entdeckung der eigenen Sexualität sowie der ersten Liebe. Andererseits erleben wir mit, wie die junge Protagonistin mit erstaunlicher Rebellion darauf reagiert, dass sie bald ihr Augenlicht verlieren wird. Das Ergebnis ist ein rastloses modernes Märchen, eingefangen in 35mm-Aufnahmen.

Bereits die Eröffnungssequenz von Ava bietet visuell überaus einnehmendes Sommer-Kino – wenn ein schwarzer Schäferhund am Badestrand durch die Menschenmenge streift und schließlich auf die im Halbschlaf liegende Ava trifft. Avas Faszination für den Hund führt wiederum zur Begegnung mit dem aufsässigen Juan (Juan Cano) – und zu weiteren Passagen voller Energie, etwa wenn sich das adoleszente Paar mit Lehm beschmiert und die touristische Gegend als Outlaw-Trio (mit Hund) gehörig aufmischt.

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Many Summers of Love

In so unterschiedlichen Filmen wie Boaz Davidsons Eis am Stiel (1978), Emile Ardolinos Dirty Dancing (1987), Hans-Christian Schmids Crazy (2000) und Greg Mottolas Adventureland (2009) wird von jugendlicher Verliebtheit im Sommer erzählt. Auch Geschichten über queere junge Menschen, die sich zum ersten Mal verlieben, sind nicht selten in dieser Jahreszeit verortet, von Paweł Pawlikowskis My Summer of Love (2004) und Marco Kreuzpaintners Sommersturm (2004), über Monja Arts Siebzehn (2016) und Luca Guadagninos Call Me by Your Name (2017) bis hin zu Leonie Krippendorffs Kokon (2020).

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Letzterer arbeitet das Nebeneinander von Schweiß auf der Stirn, Sonnenbrand am ganzen Körper und heftigem Gefühlschaos besonders treffend heraus. Während der sogenannte „Jahrhundertsommer“ am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg alle(s) zum Hochkochen bringt, entdeckt die 14-jährige Nora (Lena Urzendowsky) ihre Zuneigung zur freigeistigen Mitschülerin Romy (Jella Haase). Es wird in überhitzten Wohnungen, auf den Straßen, im Park und im Freibad das Nichtstun gefeiert, Eis gegessen, die Nacht zum Tage gemacht – und auf der CSD-Demo getanzt. „Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis. Von der einen Seite des Kottis zur anderen und wieder zurück. Solange bis wir irgendwann aus dem Becken springen“, resümiert Nora.

Die dunkle Seite des Sommers

Dass es neben emotionalen Irrungen und Wirrungen gar noch furchterregendere Dinge gibt, die in einem Sommer so passieren können, müssen die Teens erfahren, die in Jeannot Szwarcs Der weiße Hai 2 (1978) einen Segelboot-Trip zu einem Leuchtturm machen wollen und dabei von dem titelgebenden gefräßigen Fisch attackiert werden.

Durch Slasher-Movies wie Freitag der 13. (1980) von Sean S. Cunningham und Blutiger Sommer – Das Camp des Grauens (1983) von Robert Hiltzik wurde es im Laufe der 1980er Jahre zu einem Klischee, dass Jugendliche in einem sommerlichen Ferienumfeld den raschen Tod finden. Mit Ich weiß, was Du letzten Sommer getan hast (1997) von Jim Gillespie setzte sich diese Tradition in der darauffolgenden Dekade mit postmoderner Ironie fort. Statt die Ferienzeit genießen zu können, müssen die (Ex-)Highschool-Kids vor einem sinistren Unbekannten in Öljacke und mit Handhaken fliehen, der sie offenbar für ihr unmoralisches Verhalten in einer vergangenen Sommernacht bestrafen will.

Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast @ Constantin Film

Ein ausgesprochen bemerkenswerter Sommer-Schocker in idyllisch anmutender Landschaft ist Midsommar (2019) von Ari Aster. In einer abgelegenen Gemeinschaft in Nordschweden, in die sich Dani (Florence Pugh) mit ihrem Freund Christian (Jack Reynor) und dessen Studienkollegen begibt, spielt der Autorenfilmer mit Motiven des Folk-Grusels im Stile von The Wicker Man (1973). Er findet dabei jedoch einen ganz eigenen Zugang, indem er den Reiz und die Absurdität des Settings sowie die befremdlichen Rituale, die dort vonstattengehen, zusammen mit seinem Kameramann Pawel Pogorzelski in Bilder fasst, in denen die Grenzen zwischen Schönheit und Grausamkeit fließend sind. Der Score von The Haxan Cloak trägt perfekt zum Schwanken zwischen Faszination und Unbehagen bei.

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Das eindringliche Schlussbild, in dem Florence Pugh ausdrucksstark den ungeheuren Schmerz (und vielleicht auch die Erlösung) ihrer Figur vermittelt, lässt keinen Zweifel daran, dass auch Dani nach diesem (Mitt-)Sommer nie mehr dieselbe sein wird.

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