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Kommentar

Wunschmaschine Mittelschicht: Anmerkungen zu Saltburn

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

„Saltburn“ ist ein Hype. Gleichermaßen gefeiert und gehasst. Doch ist der Film alles andere als eine banale Eat-The-Rich-Fantasie. Ein Essay von Sebastian Seidler.

Meinungen
Saltburn_Artwork

Spoiler: Wer den Film noch nicht gesehen hat, der sollte an dieser Stelle die Lektüre des Textes beenden.

Es ist eine zynische Volte, die zeigt, wie mächtig die Social-Media-Maschine geworden ist: Da verwandelt sich ein komplexer und kulturkritischer Film wie „Saltburn“ zu einem leeren Abziehbild. Oh, der schmutzige, grenzüberschreitende Sex in diesem Film! Schaut nur, der nackte Barry Keoghan, wie er zu Sophie Ellis-Bextors Hit Murder on the Dancefloor durch das riesige Anwesen tanzt! Und es stimmt ja auch: Emerald Fennell hat einen sexy, einen traumhaft komponierten Film gedreht, in dem alle Menschen schön sind und jede Einstellung ein Gemälde ist. Daraus lassen sich mit einem Handstreich Instagram- und TikTok-taugliche Stories bauen. Doch unter dem Schein der Bilder brodelt eine düstere, ziemliche subversive Abhandlung über den Kurzschluss von Begehren und Ökonomie: „Saltburn“ ist ein Film, der den Schein selbst zu einem Körpervirus werden lässt, der übergreift und schließlich tötet. Wer lediglich den Exzess, die im Grunde harmlose Grenzüberschreitung feiert, hat nichts verstanden. 

Erstaunlich ist indessen, dass Saltburn in der deutschen Rezeption sehr schnell zur banalen Eat-the-Rich-Geschichte reduziert wurde.   Wolfgang M. Schmitt monierte beispielsweise in Die Filmanalyse das Fehlen des Klassenkampfes, flankiert von seinem Kollegen Ole Nymoen bei Jacobin. Auch Zeit Online konnte nur eine butterweiche Subversion in der Kuschelecke der Kapitalismuskritik erkennen. Die von Keoghan gespielte Hauptfigur Oliver Quick wird als eine Art Wiedergänger von Patrick Bateman (American Psycho) beschrieben, der als mittelloser Niemand eine Adelsfamilie um die Ecke bringt, um an das Anwesen zu kommen. Angeblich ist die Message klar: Eat the Rich! Aber ist es das, was Regisseurin und Drehbuchautorin Emerald Fennell mit ihrem Film im Sinn gehabt hat?

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Man muss den Film nicht mögen. Darum geht es mir nicht. Mit offenen und wachen Augen aber sollte man ihn sich schon anschauen – ihn sehen und in seiner Logik der Bilder nachvollziehen. Denn darum geht es bei Filmkritik: einem Werk gerecht zu werden. Das ist der alleinige Maßstab. Nun lässt mich der Verdacht nicht los, dass sich vor allem die sehr in Mode geratene ideologiekritisch gebende Filmkritik Fennells Film zurechtgestutzt hat, um ihn schlichtweg zu verarbeiten, ja um eifrig Kritik-Content zu produzieren: Klassengesellschaft, Marx und platte Kapitalismuskritik werden freudig verrührt und darüber ausgekippt. Saltburn sei nicht kritisch, nicht marxistisch genug!

Aber ist es am Ende nicht ohnehin eine höchst subjektive Angelegenheit, dieses Geschäft mit der Filmkritik? Die Aufgabe der Filmkritik sei es, einem Geschmacksurteil eine Form zu geben. Einspruc! Meine Position ist da anders: Filmkritik braucht Argumente, die sich mindestens ins Objektive neigen. Und im Fall von Saltburn lässt sich völlig objektiv eine ärgerliche Fehllektüre attestieren. 

 

Postmodern Tale

Das beginnt schon ganz am Anfang. Es wird kein Geheimnis daraus gemacht, dass es Oliver Quick selbst ist, der uns diese Geschichte auftischt. Am Ende sehen wir, dass er am Bett der an einem Beatmungsgerät angeschlossenen Elspeth (Rosamund Pike) sitzt, der Mutter der Familie Catton, die Oliver angeblich um die Ecke gebracht hat. Nun, kurz vor dem finalen Triumph also, scheint er das Geheimnis zu lüften. Saltburn ist an ihn übertragen. Jetzt muss nur noch die lebenserhaltende Maschine der letzten Bewohnerin abgeschaltet werden. Zuvor aber die Geschichte, oder gar ein Geständnis. Er habe ihn geliebt: Felix (Jacob Elordi), den Sprössling, den verführerischen Prinzen von Saltburn. Und ja, auch gehasst, wie er die ganze Familie irgendwann gehasst habe. Bilder des Begehrens brechen in den Film ein. Bilder, die an Call Me By Your Name erinnern, nah am Körper des Anderen. Dann behauptet Oliver, dass er Felix in der Nacht der Party im Irrgarten vergiftet habe. Auch habe er die Rasierklinge an den Rand der Badewanne gelegt, in der sich Ventia (Alison Oliver) die Pulsadern aufschneiden sollte.

Verführerischer Felix (Jacob Elordi) © MGM / Amazon Studios

 

Man kann das alles für bare Münze nehmen. Ein Moment des Zweifels bleibt jedoch. Wir haben es mit einem höchst unzuverlässigen Erzähler zu tun. Man kann Oliver, diesem Wiedergänger des talentierten Mr. Ripley nicht trauen. Im Verlauf des Films hat er alles getan, um die Aufmerksamkeit von Felix zu erregen, sich eine andere Biografie, ein prekäres Elternhaus zugelegt. Er befriedigt Felix’ Bedürfnis nach Echtheit, nach einer Existenz außerhalb der reichen Blase. Die gesamte Familie Cotton scheint die Projektionsfläche, die ihnen die Bedürftigen geben, zu benötigen. Auch Mutter Elspeth hält sich fürs gute Gewissen eine psychisch labile Freundin (Carey Mulligan) im Haus. Über diese wird ausgerechnet Oliver später sagen, dass er glaube, sie habe vieles nur erfunden, bloße Geschichten erzählt, um zu gefallen oder sich einzufügen in die Funktionsweise dieser bestimmten Klassenverhältnisse. Wenn Oliver also auf Unstimmigkeiten in ihren Erzählungen hinweist – warum sollten wir ihm ausgerechnet dieses Geständnis abnehmen? Handelt es sich nicht um eine weitere Projektionsfläche, möglicherweise jene der Zuschauer*Innen? 

Sobald man den Film als Postmodern Tale liest, ihm eine performative Kraft gibt, wird Saltburn zu einem wütenden Zeugnis eines Verzweifelten, der eigentlich nur und ganz und gar unbedingt dazugehören möchte. Vielleicht hat Oliver Felix wirklich umgebracht. Von Anfang an geplant war es nicht. Erst als das Lügengebäude zusammenbricht, weiß sich der junge Student nicht mehr zu helfen. Die viel diskutierten, ja die obszönen Szenen – das Trinken des Badewassers und der Beischlaf mit dem Grab – zeigen eine leidenschaftliche Anbindung an das Objekt der Begierde und einen unendlichen Schmerz. Oliver fickt das Grab nicht in einem Akt des Triumphs. Vielmehr ist es ein verzweifelter Versuch, über den Tod hinaus eine Nähe herzustellen. Während alle anderen Sexakte ökonomischer Natur waren, in dem ein Tauschhandel vollzogen wurde, handelt es sich hier um einen Akt der Verschwendung.

Elspeth (Rosamund Pike) verliert sich in Oliver. © MGM / Amazon Studios

 

Das fluide Begehren – in dieser Hinsicht ist der Film ziemlich queer, während die Figuren ihre Sexualität immer nur als Mittel zum Zweck einsetzen, nicht queer sind, lediglich so agieren – wandert zwischen allen Figuren umher. Es ist eine Währung, jenseits des Geldes. Oliver befriedigt Venetia trotz ihrer Regelblutung. Er trinkt ihr Blut, wird ihr Vampir, der sich in einer Geste, die gleichzeitig dominant und devot ist, in das System des Begehrens der jungen Frau einschreibt. In diesen Momenten ist Venetia ein echter Mensch. Um Sex als Sex geht es nicht. Saltburn ist über weite Strecken ein Film, der den Kurzschluss von Begehren und Ökonomie zeigt: Die Libido bleibt ein Motor.

Doch zurück zur Rache und zur Postmodern Tale: Die Rachegeschichte muss – so meine These – aus Ausdruck gelesen werden, als ein Zeichen in der Erzählung der Hauptfigur. Wenn Oliver am Ende tanzt, ist er vollkommen nackt, unbestimmt und allein. Alles, was bestehen bleibt: Saltburn als gespenstische Struktur, als steingewordener Ausdruck einer Klassengesellschaft. Wolfgang M. Schmitt behauptet, der Klassenkampf komme in diesem Film nicht vor. Stimmt nicht. Er liegt in der Form.

 

Projektionsfläche Mittelschicht

Oliver kommt nicht aus der Unterschicht. Er ist ein Sprössling der biederen Mittelschicht. Das verändert alles. Er wird sich der Reichen womöglich entledigen. Banal ist dies jedoch nicht. Selbst die Eat-the-Rich-Lesart kann nicht mit einem ideologiekritischen Trick vom Tisch gewischt werden, mit dem Verweis, es sei nicht so einfach: Die Reichen sind nicht die Täter, sondern ein Baustein innerhalb des Systems, das wir Kapitalismus nennen. Fest steht aber, und das zeigen auch soziologische Studien, dass der akkumulierte Reichtum der Superreichen sehr wohl Einfluss auf demokratische Entscheidungen nehmen kann: Wahlkämpfe werden finanziert, Studien beauftragt und schlichtweg mit dem Abzug von Arbeitsplätzen gedroht. Nur weil der Film auf TikTok und Co. abgefeiert wird, ihm die kritische Spitze genommen wird, heißt dies nicht, dass sich diese Kritik am Reichtum einer Klasse in die Kuschelecke zurückziehen würde. Es sagt doch vielmehr über die narkotisierende Macht von Social Media aus, wie alles am Ende zu Content wird.

Venetia (Alison Oliver)  will begehrt werden. © MGM / Amazon Studio

 

Doch ist Saltburn ohnehin eher ein Film über die Rolle der sogenannten Mittelschicht. Oliver ist kein Wahnsinniger, kein Psychopath. Er spielt einfach die Rolle, die ihm zugewiesen wurde. Als Teil der sogenannten Mittelschicht ist er das bewegliche Element innerhalb der Klassengesellschaft: für die Unterschicht immer ein Zuviel; für die Oberschicht immer ein Zuwenig. Überfluss und Mangel. Beides gleichzeitig. Das Unten neidet, droht den Platz durch Aufstieg zu besetzen. Das Oben glorifiziert die Mitte der Gesellschaft mitunter, sehnt sich nach der Arbeitskraft oder dem echten Leben. Das macht Oliver zu einer Projektionsfläche, die selbst leer ist und immer nur befüllt werden muss. (Man denke nur, wie oft sich Politiker*Innen auf die Mittelschicht beziehen und jedes Mal etwas anderes meinen.) Er ist der Kolben des Motors, der die anderen beiden Elemente in Bewegung hält und sich letztlich ja selbst in der neuen Identität verliert – was die Aufnahmen durch Spiegel verdeutlichen. Oliver ist viele. Und jeder einzelne davon hat sich im Irrgarten von Saltburn verlaufen. 

Gespiegelte Identitäten, unzuverlässiger Erzähler: Oliver (Barry Keoghan) © MGM / Amazon Studios

 

Folglich ist Saltburn durchaus ein Film über die Klassengesellschaft. Aber eher ein Film, der die Struktur und die inneren Antriebe mobilisiert, als dass er eine Ideologie darstellen würde. Darüber wäre noch so viel mehr zu schreiben. Über all die Filmverweise, die über das bloße Zitat hinausgehen, weil Fennell die Filme und ihre Themen aufeinander bezieht, in ein Verhältnis zum Thema setzt. Über das Obszöne als Moment der Freiheit, in dem sich ein Subjekt aus der gesellschaftlich normierten Welt katapultiert. Und schließlich wären auch noch Worte über die Probleme der Ideologiekritik zu verlieren, die sich im Moment als die Speerspitze der Filmkritik inszeniert: Wo liegt denn der ideologiefreie Raum, von dem aus Kritik mit reinem Bewusstsein geübt werden kann? Es ist schon ein elitärer Ansatz, der in den Texten und Videos im Oberlehrerton die Filme auf Zeichen reduziert und dem einfachen Publikum alles auseinanderlegt, einem immer ähnlichen Fahrplan gemäß, statt sich den komplexen Prozessen der filmischen Form auszusetzen. Aber lassen wir das.    

Letztlich bleibt es erstaunlich, wie leicht wir uns einen Film vom Hals schaffen können, der wesentlich mehr zu bieten hat als bloße Unterhaltung. Wir sollten ihn als Einladung verstehen, über die jeweiligen Positionen hinauszudiskutieren, statt uns in die Kuschelecke der Ideologiekritik zurückzuziehen, die angeblich immer genau hinschaut, sich dann aber auch gerne mit der eigenen Lektüre schmückt und Bücher und Zitate auf Bilder legt.    

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