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Als die Hüllen fielen – Obszönität im Stummfilm

Ein Beitrag von Bianka-Isabell Scharmann

Als unter den Kleidern noch Korsette getragen wurden und die Röcke bis auf den Boden reichten, ließen die ersten Stummfilme schon die Hüllen fallen. Stummfilm als primitive, ruckelige Vorform von Kino? Mitnichten! Bianka-Isabell Scharmann über Sex(ualität) in den langen Jahren des Early Cinema.

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Birth of the Pearl von F.S. Armitage
Birth of the Pearl von F.S. Armitage

Die Stummfilmzeit lässt sich grob in drei Abschnitte einteilen: in das Kino der Attraktionen der etwa ersten 10 Jahre (1895 – 1905), in die dann erfolgende Herausbildung von narrativen Formen und die Durchsetzung der Spielfilme in den Jahren 1905 – 1915 und in eine Phase der Pluralisierung und Verfeinerung der Filmsprache in den Jahren 1916 – 1929. Dabei sind die Übergänge fließend und feste Grenzen sollten keinesfalls angenommen werden.

Im Folgenden möchte ich einen Überblick geben und anhand typischer Beispiele aufzeigen, wie heterogen die Stummfilmzeit Sex(ualität) thematisiert und ausgestellt hat. Ein genauer Blick auf die nackten Tatsachen der Stummfilmzeit zeigt, dass Sex und Nacktheit nicht nach und nach Einzug hielten: sie waren von Anfang an Teil der Filmkultur, es fielen sukzessive Hüllen und Schamgrenzen wurden ausgereizt. 

 

Bis an die Grenzen der Sittlichkeit im Kino der Attraktionen

Die ersten Filme des Kinos der Attraktionen waren vor allem durch ein Gemeinsames gekennzeichnet: Zurschaustellung. Diese hatte ein doppeltes Moment: Nicht nur die Attraktionen auf der Leinwand, sondern auch die Technik selbst war neu und wurde als spektakulär erlebt. Wichtig zu wissen ist außerdem, dass Filme nicht vornehmlich in Kinos gezeigt wurden (dies geschah verbreitet erst ab etwa 1907), sondern oftmals als Teil von Varietéprogrammen, in Theaterhäusern oder aber auch in sogenannten Kinetoskopen. In diese „Filmautomaten“ wirft man ein Geldstück ein und schaut durch ein Peep-Hole auf kurze Filme (15-30 Sekunden), wahlweise auch im Loop. Zirkusnummern, Tänze, Zaubertricks, oder auch die berühmten Züge – eine frontal positionierte Kamera nahm das Geschehen auf und stellte es als Attraktion aus. 

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Im wohl ersten Close-Up der Filmgeschichte hebt sich langsam ein Rocksaum und gibt ein Frauenbein dem Blick frei. Als Einladung verstanden, sieht man den Ladenbesitzer in der nächsten Einstellung sich einen Kuss von der Dame stehlen. The Gay Shoe Clerk (1903/1904) ist ein Paradebeispiel für das Kino der Attraktionen: das Gezeigte soll Staunen auslösen und schocken, man sieht anders und Verborgenes. Denn, man muss sich vorstellen, dass selbst Küsse in der Öffentlichkeit (fast) gesetzwidrig waren. Den ersten Kuss auf der Leinwand gab es tatsächlich schon 1896 zu sehen: The May Irwin Kiss zeigt ein Paar in Nahaufnahme in einer intimen Situation, Nase an Nase kuschelnd und zuletzt sich küssend. Die katholische Kirche schrie nach Zensur und Moralreform – dies hielt andere Filmschaffende natürlich nicht davon ab, stetig weiter Hüllen fallen zu lassen, Körper auszustellen und sexuelle Handlungen auf die Leinwand zu bringen. 

 

Entblößte Frauenkörper

Gerade der Topos, der sich vor der Kamera ausziehenden Frau ist typisch für das Kino der Attraktionen. Begründet haben könnte diese Konvention der französische Filmmagier Georges Méliès mit der wohl ersten Nacktaufnahme der Filmgeschichte. In Nach dem Ball (1897) zieht sich eine Frau mit Hilfe ihrer Hausangestellten aus, um ein Bad nehmen zu können. Nur noch mit einem Body bekleidet, wirkt die Frau fast nackt. Die Variationsmöglichkeiten dieses Motivs waren vielfältig: ob eine Frau durch eine Maske in Form eines Schlüsselloches beim Ankleiden ihres Korsetts beobachtend, Peeping Tom in the Dressing Room (1905), als Aus- und Ankleidenummer wie in From Show Girl to Burlesque Queen (1903) oder aber als Trapeznummer, während der sich die Akrobatin sukzessive ihrer Kleidung bis auf die Unterkleider entledigt wie in Trapeze disrobing Act (1901). Undenkbar, Frauen in der Öffentlichkeit zu dieser Zeit so zu sehen! 

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Teil früher Filmkultur waren auch sogenannte gefilmte Tableaux Vivants: die „lebenden Bilder“ wurden in verschiedenen Formen Teil der Attraktionskultur. Birth of the Pearl (1902/1903) ist ein sehr gutes Beispiel für beides: Nachdem der Vorhang aufgezogen wurde, sieht man eine riesige Muschel, umgeben von Steinen vor einem gemalten das Meer zeigenden Hintergrund. Diese öffnet sich langsam und gibt damit den Blick auf ihr Inneres frei. Sie gebiert ihre „Perle“, die, wie kann es anders sein, eine junge Frau ist. Und sie ist nackt? Nicht ganz. Die Schaumgeborene, wie man Venus auch nennt, wird traditionell wahlweise direkt den Wellen oder aber einer Muschel entsteigend, nackt und/oder nur ihre Scham bedeckend, gezeigt. Diese „Perle“ trägt einen hautengen Anzug, der die Formen ihres Körpers perfekt auszustellen und zu zeigen weiß. Hieran lässt sich ein weiterer Trend ablesen: Mythologisierung legitimiert Nacktheit. 

 

Wie Sex zeigen? 

Mit der Herausbildung von Genres, etwa in der Mitte der 1900er Jahre, entwickelte man auch bestimmte Stilmittel – ähnlich denen des Hollywood-Kinos – um öffentlich Sex „zeigen“ zu können. Ein gutes Beispiel ist Boireau au Harem (1912/1913). Boireau, ein damals sehr beliebter, aber heute fast vergessener französischer Komiker, reist in den fernen Orient. Er soll einen Scheich fotografieren. Eine der Haremsdamen wird aufgefordert, für den Gast zu tanzen. Boireau, ganz hingerissen und unverhohlen auf die ruckartigen, sehr an Sex erinnernde, Hüftbewegungen der Tänzerin schauend, verliebt sich in sie.

Nachdem Boireau vom Scheich entlassen wird, folgt er der Tänzerin und ihren lockenden Handbewegungen in den Harem. Dort bietet sie ihm die Wange an – er lehnt ab. Sie insistiert, bis er sich traut, ihre Hand zu küssen. Langsam und stetig wandern die Küsse schließlich fast stürmisch ihren Arm hoch. Szenenwechsel. Man sieht die Palastwachen im Garten, die Kamera findend, den Scheich alarmieren. Erneuter Wechsel. Boireau’s Hemd ist am Kragen aufgeknöpft, die Krawatte gelockert, die Positionen haben sich verändert: der kurze Ortswechsel zeigt uns, was wir nicht gesehen haben. Und wieder ist es die Kleidung, die den letzten Hinweis gibt.

 

Die letzten Hüllen fallen

Zurück zu Mythen, Legenden und Allegorien. Was in den 00er Jahren mit Filmen wie Birth of the Pearl begann, wurde in den 1910er Jahren aufgegriffen und ausgebaut. In dieser Zeit schafften es dann die ersten, wirklichen Nacktszenen auf die große Leinwand. Als buchstäblich nackte Wahrheit huschte Margaret Edwards in Hypocrites (1915) durch die Vignetten und Annette Kellermann, eine weltbekannte Schwimmerin, war einer der ersten großen Filmstars, die komplett nackt in Daughter of the Gods (1916) zu sehen war. Und das Epik Intolerance (1916) ließ es sich nicht nehmen, Brüste und Körper freizulegen, wie etwa in den Szenen in den Babylonischen Liebestempeln.

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Moralischer, mythologischer oder exotischer Kontext legitimieren offene Sexualität und tatsächliche Nacktheit. Cleopatra (1917) ist ein weiteres Beispiel dieser Art: Heute nur noch in Fragmenten erhalten, ist dieser Film der erste Auftritt des späteren Filmstars und Vamps Theda Bara. Die Kostüme betonen ihre Brüste und unterstreichen gleichzeitig ihren Exotismus. 

 

Einwurf: Die Anfänge des Production oder Hayes Code 

Der Roscoe-„Fatty“-Arbuckle-Skandal von 1921 galt vielen in der Filmindustrie als Anlass, dem Staat zuvorzukommen und eine eigene Aufsicht zu gründen. Filmzensur, vor allem in Amerika, ist demnach – zumindest am Anfang – nicht von staatlicher Seite initiiert und übersehen worden, sondern war die Reaktion der Industrie selbst auf die Ausschweifungen, die Dekadenz und die damit einhergehenden Leben und Moral gefährdenden Lebensstile. Der Production-Code der 20er Jahre umfasste: (Gewalt-)verbrechen nicht explizit zu zeigen, Kriminelle durften nicht heroisiert werden und sexuelle Perversionen waren verboten – darunter verstand man vor allem Homosexualität. Waren voreheliche Verhältnisse und anderes vorher noch „erlaubt“, so sah der Code später vor, die Institution der Ehe stärker zu schützen. 

 

Gierige Blicke 

Die Nachtklubszene in Metropolis kann als paradigmatisch für die Art und Weise gelten, wie in den 20er Jahren Begehren vermittelt wird. Der verrückte Wissenschaftler Rotwang (Rudolf Klein-Rogge) kreiert im Film ein Double, eine Doppelgängerin der ‚guten‘ Maria: täuschend echt, beide gespielt von Brigitte Helm, verkörpert die Maschinen-Maria Lust und Sexualität, die sie mit ihrem Körper zu vermitteln weiß. Diese steht somit in krassem Gegensatz zu der tugendhaften, ja biblischen Maria. Maschinen-Maria hat in der genannten Szene einen Tanzauftritt: Allein auf einem Podest beginnt sie in einem glitzernden und sie spärlich bedeckenden, gleichzeitig ihre Reize unterstreichenden Kostüm, sehr lasziv zu tanzen.

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Der Tanz steigert sich zur Ekstase. Abwechselnd mit den Tanzszenen werden immer wieder die Männer im Nachtclub gezeigt: ihre Augen weiten sich, Augenpaare überlagern sich in einem Bild und die Gesichter zeigen unverhohlenes Begehren. Hier werden körperliche Bewegungen und Reize direkt mit der sinnlichen Reaktion zusammengeschnitten: eine Montage körperlicher Erotik. In Sonnenaufgang (Sunrise) (1927) ist es ebenfalls ein Tanz nach innigen Küssen, aufgeführt von der Geliebten (Margaret Livingston) des verheirateten Protagonisten (George O’Brien), der ihn dazu bringen soll, seine Frau umzubringen und mit ihr in die dekadente Stadt zu ziehen. 

Mit der Ankunft des Tonfilms und der kurz darauf einsetzenden Depression 1929 sind gleich mehrere Gründe genannt, die die Industrie und ihre Filmsprache maßgeblich beeinflussten. Das körperbetonte Schauspiel, die ausgeprägte Gestik und Mimik, der Gebrauch von Zwischentiteln – all das fiel weg zugunsten eines reduzierten Schauspiels und anderen Formen der Montage, da Szenen nun durch die Stimme miteinander verbunden werden konnten. Der ausschweifende Lebensstil der 20er Jahre galt vielen als Ursache der Depression – und dieser schlug sich auch im Film nieder. Dazu gehörte eben auch die auf vielerlei Weise thematisierte Sexualität. Mit den 30ern wurde der Code strenger und die Obszönitäten der Stummfilmzeit waren – erst einmal – Geschichte. 

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