La tête haute

Eine Filmkritik von Festivalkritik Cannes 2015 von Joachim Kurz

Den Kopf hoch!

Den Kopf nach oben nehmen, aufrecht durchs Leben gehen, so könnte man den Titel von Emmanuelle Bercots Film, der in diesem Jahr das Filmfestival in Cannes eröffnete, verstehen. Und tatsächlich scheint das für die Hauptperson, den Jugendlichen Malony (Rod Paradot), dringend nötig zu sein.
Zum ersten Mal sieht man ihn im Alter von circa sechs Jahren, als seine Mutter (Sara Forestier) der Jugendrichterin Florence Blaque (Catherine Deneuve) gegenüber sitzt. Malonys Vater ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot und der neue Lebensgefährte der Mutter lehnt den Jungen ab. Eine Erfahrung, die das Kind immer wieder erleben wird, denn auch bei dem Zusammentreffen im Büro von Madame Blaque zeigt sich, dass Malony für seine Mutter, die von einem anderen Mann einen weiteren Sohn hat, kein Wunschkind ist — im Gegenteil. Er sei eine Last, so bricht es aus der jungen Frau heraus, die offensichtlich mit ihrem eigenen Leben hoffnungslos überfordert ist. Und so nehmen die Dinge in diesem Büro, die das Kind unter administrative Aufsicht stellt, ihren Lauf.

Was folgt, ist der Irrweg eines Jungen, der vorgezeichnet zu sein scheint: Immer wieder wird Malony in verschiedene Einrichtungen der Jugendhilfe eingewiesen, entwickelt immer stärkere Aggressionen, kommt abermals mit seiner Mutter in Berührung, die mit dem Heranwachsenden noch weniger zurechtkommt als mit dem Kind, das er einst war. Es folgen kleine Gaunereien, etliche Autodiebstähle, oft in Tateinheit mit Gewaltexzessen, die nahelegen, dass Malony irgendwann endgültig auf die schiefe Bahn geraten wird, falls er sich nicht bereits längst dort befindet. Doch es gibt auch immer wieder kleine Hoffnungsschimmer. Und Madame Blaque, die den Fall von Malony über annähernd zehn Jahre begleitet, ist wahrlich ein Glücksfall für den Jungen, der ihr prinzipielles Wohlwollen oft genug auf eine harte Geduldsprobe stellt.

Im Laufe seiner Odyssee durch Jugendheime und -einrichtungen und schließlich sogar im Gefängnis begegnen Malony immer wieder Menschen, die es gut mit ihm meinen. Da ist beispielsweise Yann (Benoît Magimel), sein Betreuer, der selbst eine ähnliche Kindheit durchgemacht hat und der sich durch fast nichts entmutigen lässt, diesem Jungen, der oft genug einem brodelnden Vulkan gleicht, sein Vertrauen zu schenken, wohl wissend, dass dies ein ums andere Mal enttäuscht werden wird. Oder Tess (Diane Rouxel), die Tochter einer Erzieherin in einem Heim, mit der Malony eine Beziehung eingehen wird. Mit der Zeit und beinahe unmerklich formen diese Menschen eine Art Ersatz für eine Familie, die der Junge niemals hatte.

Sind solche Biographien von Kindern aus so genannten „schwierigen Verhältnissen“ tatsächlich unabwendbar? Ist es nicht vielleicht auch das staatliche System der Jugendhilfe und -wohlfahrt, das Karrieren wie diese produziert? Die Antwort, die Emmanuelle Bercot auf diese Fragen gibt, fällt nicht wirklich eindeutig aus. Was sich immer wieder aus Gesprächen Malonys mit anderen Jugendlichen in ähnlicher Situation ergibt, ist deren Feststellung, dass er mit seiner zuständigen Jugendrichterin wohl Glück gehabt hat — auch wenn es lange Zeit für den Zuschauer nicht so aussieht, als könne dieser Junge wirklich jemals so etwas wie Glück erfahren oder wäre in der Lage, solch ein Glück überhaupt zuzulassen. Das enorme selbstzerstörerische Potential des jugendlichen Delinquenten, sein brüllender Hass auf die Welt, seine durch nichts zu bändigende Überzeugung, er sei nichts wert, für ihn gäbe es keinen Platz auf dieser Welt — das alles macht seine Lage eigentlich aussichtslos.

So spannend und bewegend dieser Weg eines Jungen wie diesem in die Welt auch sein könnte, so einfallslos erweist sich die Dramaturgie der Geschichte, die vor allem mit den Mitteln der Kontrastierung arbeitet: Jedem Hoffnungsschimmer folgt mit enervierender Berechenbarkeit der nächste Tiefschlag, jeder Talsohle ein neuerlicher Anlauf, der wiederum von einer neuerlichen Abwärtsbewegung abgelöst wird. Zudem ist Catherine Deneuve in ihrer Rolle als engagierte Jugendrichterin und Gegenpart zu Malonys hysterischer Mutter sehr eingeschränkt in ihrem darstellerischen Repertoire, das sie für ihre Rolle abrufen muss. Fast immer sitzt sie, wirkt konzentriert, gütig, ansatzweise streng, aber stets als Herrin der Situation, die sich kaum je eine eigene Gefühlsregung gestattet.

Sara Forestier agiert an manchen Stellen derart überzogen (besonders augenfällig wird dies vor allem in einer Szene im Gerichtssaal, als es um eine Verurteilung ihres Sohnes geht), dass jegliches Verständnis für ihre wechselnden Stimmungen kaum je aufkommt — von Sympathie ganz zu schweigen. Und wäre da nicht der Newcomer Rod Paradot, der Malony mit unglaublicher Energie auf die Leinwand bringt, wäre die Enttäuschung über einen zwar gut gemeinten, aber nicht gut gemachten Eröffnungsfilm an der Croisette noch größer. So aber wünscht man sich, die Brüder Dardenne, an deren Werke La tête haute bisweilen ansatzweise erinnert, hätten sich dieser Geschichte angenommen. Die Strenge und Struktur, die die beiden Filmemacher ihren Sozialdramen zu geben verstehen, hätte Emmanuelle Bercots Film spürbar gut getan.

(Festivalkritik Cannes 2015 von Joachim Kurz)

La tête haute

Den Kopf nach oben nehmen, aufrecht durchs Leben gehen, so könnte man den Titel von Emmanuelle Bercots Film, der in diesem Jahr das Filmfestival in Cannes eröffnete, verstehen. Und tatsächlich scheint das für die Hauptperson, den Jugendlichen Malony (Rod Paradot), dringend nötig zu sein.
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Meinungen

Urs Wiget · 16.01.2021

Die Filmkritik ist ungerecht. Leider ist es genau so, dass sehr oft auf einen kleinen Lichtschimmer im Verhalten des Jugendlichen unmitttelbar danach ein gewaltiger Absturz folgt. Diese Tatsache macht das Leben als Eltern und Erzieher mit diesen Jugendlich so schwer, die dauernde Ambivalenz tötet Hoffnung und Liebe. Dabei geht immer mehr vergessen, dass diese Jugendlichen ja selber massiv leiden und häufig schwer depressiv sind.
Ich finde die Starrheit Catherine Deneuve's in ihrer Ohnmacht genau passend zur Rolle und leider sind die Ausbrüche der Mutter so gespielt, wie sie häufig in der Begleitung solcher Jugendlicher vorkommen.
Alles in Allem ein gut gelungener, wenn auch sehr bedrückender Film mit hervorragender Schauspielerleistung - auch viel zitierte Clichés sind eben oft trotz Kritik wahr....