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Shinji Sōmais sechster Film zeigt fünf Tage im Leben einer japanischen Kleinstadt-Schulklasse, die von einem schweren Taifun heimgesucht wird. Die dramatische Situation bringt sie dazu, sich mit ihren eigenen Hoffnungen und Zukunftsängsten zu beschäftigen.

Typhoon Club (1985)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Die Jugend vor dem Sturm

Ein Bild wie ein vergessenes Gefühl: Eine Schülerin sitzt unter den türmenden Wolkenbergen eines heraufziehenden Tropensturms, ein wenig erschöpft, aber mit einem breiten Lächeln. Ein kleiner Streifen fester Boden ragt ins Bild, ansonsten ist es ganz erfüllt von Möglichkeiten in Blau und Violett. Jugend als der Moment, in dem wir erstmals erahnen können, was noch auf uns zukommt – so zeigt es der japanische Regisseur Shinji Sōmai in seinem sechsten Film „Typhoon Club“ von 1985.

Es ist ein Film, der lange in Erwartungshaltung verharrt. Er zeigt fünf Tage im Leben einer japanischen Schulklasse. Eine große Prüfung kündigt sich am Horizont an, noch weiter in der Ferne auch ein Leben nach dem Abschluss mit Ehe und Beruf. Aber in diesem Moment ist man vor allem mit sich selbst beschäftigt, mit neuen Gefühlen, neuen Gedanken und der Suche nach einem Platz in der Welt. Mit Liebe und Zweifeln.

Während die meisten Coming-of-Age-Filme dieser Art schnell Helden und Identifikationsfiguren aus dem Meer der Heranwachsenden fischen, bleibt Typhoon Club auf Distanz. Manchmal ganz konkret, denn Akihiro Itōs Kamera filmt oftmals aus einer gewissen Entfernung, den Blick durch Objekte oder Trennwände verstellt. Meist aber eher im übertragenen Sinne, als wollte Sōmai sie alle nicht festlegen oder unnötig in eine bestimmte Richtung drängen. Er nimmt ihre Schuluniformen ernst und versteht die Klasse als eine Art Einheit. Nicht als soziologische Kategorien, nicht als Jugendfilmklischees, sondern als gesammeltes Versprechen an die Zukunft.

Einer von ihnen, der grüblerische Mikami (Yuichi Mikami), ringt sogar mit der Frage, wie man den Limitierungen der eigenen Spezies entkommt. Wie man mehr wird als einer von vielen. Er entwickelt eine adoleszente Obsession mit dem Tod. Eine andere, Rie (Youki Kudoh), nehmen wir erst wirklich wahr, als sie ausbricht und nach Tokio flüchtet. Manche, wie den Klassenclown Akira (Toshiyuki Matsunaga), verlieren wir immer wieder aus den Augen. Und Ken (Shigeru Benibayashi), der später noch schreckliche Gewalt ausüben wird, sehen wir früh im Film ein besseres Leben nachspielen. Er steht vor einer armseligen Hütte, öffnet immer wieder die Tür und ruft: „Ich bin zu Hause!“, als wäre da jemand, der antworten könnte. 

Die Schülerinnern und Schüler haben natürlich alle Namen, Eigenschaften und persönliche Probleme, aber die verschiedenen Episoden aus ihren Leben wirken wie zufällig aus einem großen Fundus gegriffen. Sie exemplifizieren nichts, sie treiben keine Handlung voran und entwickeln die Figuren auch nicht zwangsläufig, sondern betrachten sie vor allem. Zeit vergeht, und bei Sōmai fühlt es sich an, als wäre das überraschend und neu. Als würde man gerade von diesem Phänomen erfahren und müsste sich erst daran gewöhnen. 

Wann beginnen wir, zu verstehen, was Zeit ist? Wenn wir um sechs Uhr ins Bett geschickt werden, wenn wir die Uhr lesen lernen, wenn wir erstmals selbst entscheiden können, wie wir sie gebrauchen, das Leben sich als formbares Objekt auffaltet und der Himmel uns zu seiner Eroberung einlädt? Wenn wir Proust, Hawking oder Augustinus gelesen haben? Die Figuren des Films verlieren die Unschuld. Ihre jugendliche Unbeschwertheit wirkt irgendwann wie vorausseilende Nostalgie, als müsste die Gegenwart jetzt schon mit einer besseren Erinnerung überschrieben werden.

Auffällig ist die Abwesenheit der Eltern. Die jungen Menschen stehen schutzlos vor dem herannahenden Sturm des Lebens. Erwachsene tauchen im Film eher am Rande auf und sind schwer zu verstehen. Viele von ihnen wirken fremdartig oder sogar gefährlich. Autorität geht lediglich von Klassenlehrer Herr Umemiya (Tomokazu Miura) aus, aber auch sein Herrschaftsanspruch wird bald in Frage gestellt, weil er genau so unsicher im Leben steht wie seine Schülerinnen und Schüler. Seine Beziehungen sind chaotisch: Da ist eine Frau, die er wohl schon längst hätte heiraten sollen, und eines Tages steht ihre Familie im Klassenzimmer und schreit den Überforderten nieder. Wenn die Generationen vereint sind, dann in der Orientierungslosigkeit. Wenn man etwas über die Älteren weiß, dann nur, dass man nicht sein will wie sie. 

Die neue Restauration des Films wurde unter anderem mit Lob von Hou Hsiao-Hsien, Ryusuke Hamaguchi und Kiyoshi Kurosawa beworben. Man kann ihre Affinität verstehen und sieht die Schnittmenge mit dem jeweiligen Werk. Man würde in dieser Reihe vielleicht noch Edward Yang erwarten, dessen A Brighter Summer Day von 1991 auf ähnliche Weise die Leben von Schülern in langen, suchenden Nächten versenkt und einen großen Regensturm zur emotionalen Katharsis erhebt.

Shinji Sōmai wurde von Japans ältester Filmzeitschrift Kinema Junpo einst zum besten Regisseur der Achtzigerjahre gewählt. Ein klingender Name ist er bis heute nicht, eher ein ewig Halbentdeckter. Zu seinen Unterstützern zählte auch Bernardo Bertolucci. Der schrieb über Typhoon Club, er wäre „einer der schönsten und berührendsten Film über die Jugend, absolut niederschmetternd, mit einer Gewalt, als hätten diese Kinder immer noch die Art von mentaler Verwirrung zwischen Schuld und heroischen Idealen, die junge Deutsche in den Sechzigern hatten“.

Vordergründig fehlt mit dem Bezug zur Welt der Erwachsenen auch die Welt der Politik. Aber Mikamis ästhetische Todessehnsucht nach Art des Schriftstellers Yukio Mishima (auf den sogar explizit verwiesen wird) offenbart sich auch als Angst vor dem Erwachsenwerden. Heroische Gesten der Selbstopferung enden in cartoonhafter Lächerlichkeit, die Hinwendung zum Leben und zur Liebe zeigt Sōmai mit Geduld und Hingabe. So lange wie ein Popsong dauert die lange und langsame Kamerafahrt an Mikami entlang, der einsam auf dem Boden der Sporthalle hockt, während Mädchen vor ihm auf der Bühne tanzen. Sie rufen ihn, er sitzt da, folgt erst zuletzt ihrem Ruf ins Licht. Der Film ist voll von solchen elegant choreographierten Kamerabewegungen, die vorsichtig um die vielen Nichtereignisse kreisen, als stünde etwas Zerbrechliches im Raum. Vorsicht ist hier das Gegenteil von Neutralität oder Gleichgültigkeit.

Der Taifun geht schließlich vorbei und die Schule glänzt laut Rie wie Mishimas goldener Pavillon. Doch der Tempelbrand ist ausgeblieben, und das Leben geht weiter. Oder mit anderen Worten: Der nächste Sturm kommt bestimmt.

Typhoon Club (1985)

Fünf Tage, während derer ein Taifun aufzieht, wütet und abklingt, bilden den zeitlichen Rahmen für eine Schüler*innentragödie an einer Oberschule außerhalb von Tokio. Als der Klassenclown Akira dort eine nächtliche Party seiner Mitschülerinnen im schuleigenen Schwimmbad beobachtet, wird er von diesen als unliebsamer „Spanner“ so lange untergetaucht, dass er fast ertrinkt. Der herbeigerufene Klassenlehrer hat eigene Probleme. Die Mutter und der Onkel einer Kollegin, mit der er ein Verhältnis hat, wollen ihn zur Hochzeit zwingen. So entgehen ihm die Nöte, die seine Schüler*innen bewegen. Ihre Gespräche kreisen um Leben, Tod und Wiedergeburt, um ein lesbisches Paar unter ihnen und den Taifun. Als dieser naht, nehmen die Aggressionen in der Schülerschaft zu …

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