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Postkarten aus Cannes #2: Wiedersehensfreuden

Ein Beitrag von Joachim Kurz

In diesem Jahr probieren wir etwas Neues aus: Statt langer Filmkritiken senden wir lieber Postkarten (manchmal sind es auch Briefe) aus Cannes, in denen wir den Tag und vor allem die Filme Revue passieren lassen, Bilder und Eindrücke.

Meinungen
Postkarten aus Cannes

Der Flughafen Amsterdam Schiphol sei, so wurde ich vor einigen Jahren von einem befreundeten Filmkritikerkollegen gewarnt, ein wahres Bermudadreieck der verschollenen Gepäckstücke. Fluchend hatte er damals von seinem Koffer berichtet, der beim Umsteigen verloren ging und erst Tage später wieder auftauchte. Ich hatte die Geschichte und die dahinter stehende Warnung vergessen – bis mir heute genau das gleiche widerfuhr. In Nizza gelandet, wartete ich mit einigen anderen Menschen vergeblich auf mein Gepäck, gab alle Daten bei den zuständigen Mitarbeiterinnen am Flughafen zu Protokoll und machte mich reichlich verzögert auf den Weg nach Cannes. 

Dabei hatte ich alles so schön geplant: Landung 11:15, dann gemütlich mit dem Bus nach Cannes, dort den Koffer abladen, die Akkreditierung holen und gemütlich um 14 Uhr in eine Pressevorführung von Le deuxième acte schlendern, dem Eröffnungsfilm vom vorigen Abend, für den ich schon ein elektronisches Ticket gebucht hatte. Ein fast perfekter Plan. Doch es kam anders.

Der erste Bus war brechend voll, also auf den zweiten warten, der zum Glück kurz darauf kam. Dennoch war die Zeit bereits bedenklich fortgeschritten und der schöne Plan drohte sich in Luft aufzulösen. Immerhin hatte das Ganze einen kleinen positiven Nebeneffekt: Da kein Koffer aufzugeben war, konnte ich in Cannes angekommen direkt zum Akkreditierungsbüro am Hafen gehen und fand dort die erwartete Schlange viel kürzer als befürchtet. Zehn Minuten vor Vorstellungsbeginn hatte ich die Akkreditierung in Händen, ohne die man in kein Kino hineinkommt und stürmte zum Festivalpalais, in dem sich einer der Kinosäle befindet, wo der Film laufen sollte. Mit eher rudimentärem Französisch schaffte ich es, am Einlass vorgelassen zu werden und nahm tatsächlich zwei Minuten vor Vorstellungsbeginn auf einem Sitz Platz.

© Chi-Fou-Mi Productions

Und dann: reines Glück! So viel Spaß hat – zumindest in den 15 Jahren, in denen ich das Festival besuche – noch kein Eröffnungsfilm gemacht. In Le deuxième acte zieht der Regieexzentriker Quentin Dupieux wieder alle Fäden seines versponnen Universums und macht ungefähr dort weiter, wo er vor kurzem mit Yannick aufgehört hatte. In seiner schmucklosen, aufreizend beiläufigen und wohltuend unaufgeregten Art lässt Dupieux vier Schauspieler an einem Filmset aufeinanderprallen – und allein schon die Besetzung lässt aufhorchen: Neben dem Newcomer Raphaël Quenard, der bereits in Yannick zu sehen war, versammeln sich zudem noch Lea Seydoux, Vincent Lindon und Louis Garrel vor der Kamera. Nur – vor welcher eigentlich?

Virtuos jongliert der Film mit verschiedenen Realitäts- und Fiktionsebenen, lässt die vier Mimen immer wieder aus der Rolle fallen, bis sie endlich für einen kurzen Moment genau das spielen, was Drehbuch und Regie eigentlich für die vorgesehen hatten – bevor sie wieder abschweifen. Ein Film-im-Film also, aber eigentlich ist es noch viel komplizierter: Das Drehbuch, in dem sie sich immer wieder verheddern, stammt von einer künstlichen Intelligenz und auch die Regieanweisungen sind ein Produkt von Algorithmen und nicht menschlicher Schaffenskraft und Intuition. Kein Wunder also, dass bald schon alles drunter und drüber geht, es am Set zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, fortwährenden Beleidigungen und einem Nervenzusammenbruch kommt. Und zu all dem gesellt sich noch ein Komparse hinzu, der vor Lampenfieber seinen kleinen Auftritt als Wirt derart verhaut, dass es vor lauter Lachen kein Halten mehr gibt. Was bei dem an extremem Lampenfieber Leidenden zu einer Kurzschlussreaktion führt – oder etwa doch nicht?

Le deuxième acte ist ein echter Drahtseilakt, ein Feuerwerk der Einfälle und wilden Sprünge zwischen Realität und Fiktion, Rolle und Wirklichkeit und nebenbei ein bitterböser Seitenhieb auf die Eitelkeiten der Filmbranche, auf KI-Träumereien und die Versuche, Filme mittels Algorithmen und Formeln erfolgreicher zu machen. Das macht nicht nur Spaß, sondern besitzt dank der prominenten Besetzung auch einen gewissen Mainstream-Appeal – was aber auch wenig wundert, denn gleich zu Beginn erfährt man, dass Netflix hier seine Finger im Spiel hatte.

Man kann Dupieux nur wünschen, dass seine trickreiche und schlaue Metakomödie auf das Filmemachen es dann tatsächlich auch in Deutschland in die Kinos schafft, seinen letzten beiden Werken Yannick und Daaaaaali! war das ja nicht vergönnt. Dabei sind es genau solche vermeintlich kleinen anarchischen Werke, die ein adäquates Gegengift sind gegen die Stupidität und Einfallslosigkeit, mit der Hollywood mit seinen Cinematic Universes jegliche Kreativität und Originalität auf dem Altar des schnöden Mammon opfert. 

Sicherlich wird Dupieux in Deutschland niemals die breite Masse des Kinopublikums erreichen, doch sein philosophischer Witz und seine bewusst einfach gehaltenen filmischen Experimente sind in hohem Maße hintersinnig und ungeheuer unterhaltsam – und aus meiner Sicht wäre jetzt schon eine Hommage an diesen Mann, der seit etwas mehr als einem Jahrzehnt überhaupt erst Filme macht, mehr als verdient.

Und weil das Wiedersehen mit Dupieux so viel Freude gemacht hat, gesellte sich gleich noch ein weiterer Glücksmoment hinzu: In der Zwischenzeit erreichte mich per Mail eine Nachricht der Fluglinie, dass mein verschollener Koffer wiedergefunden und bereits in Nizza sei. Und so ging am Ende doch noch alles gut aus – nur eben anders als gedacht. 

Nach diesem Auftakt geht es morgen für mich dann mit dem Festival erst so richtig los – mit vier bis fünf Filmen. Ich freue mich drauf.

Meinungen

wignanak-hp · 18.05.2024

So etwas kann man auch bei der Berlinale erleben, dieses Jahr. In Spandau gestrandet, weil Staatsbesuch in der Stadt war. Ab Bahnhof Zoologischer Garten ging nichts mehr. Letzte Berlinale-Tickets auf dem Bahnsteig geordert, dann mit der U-Bahn weiter. Normalerweise sind es 3 Stunden von der Ankunft in Berlin bis zum ersten Film. Um 5 nach 12 saß in glücklich in meinem Kinosessel. Gerade so geschafft zum ersten Film!