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Aufgestöbert: Stephen Sayadian

Ein Beitrag von Mathis Raabe

Im Internet kann man angeblich alles finden. Allerdings nur, wenn man vorher bereits weiß, wonach man suchen muss. Außerdem: Trotz zahlloser Streaming-Plattformen gibt es Filme, die auch im digitalen Raum verschütt gegangen sind. Sogar ganze Regisseur:innen, deren Werk untergeht, die aber mehr Aufmerksamkeit verdient haben. Solche stellen wir in dieser Reihe vor. Dieses Mal: die surrealistische Pornografie von Stephen Sayadian.

Meinungen
Stills aus Café Flesh und Dr. Caligari

Lange Zeit musste man Pornoseiten durchforschen, um die Filme von Stephen Sayadian zu finden, und dann freilich nur in bescheidener Qualität, als VHS-Rip, und ständig unterbrochen durch Pop-ups, in denen Leute Sex-Dates vereinbaren wollen. Ja, Stephen Sayadians Filme sind Pornos. Aber sie sind surrealistische Pornos mit großem Stilwillen, die derart faszinieren, dass man den Sex beinahe übersieht.

Dass es noch keine breitenwirksame Arthouse-Porno-Bewegung gegeben hat, ist wenig überraschend: Diese Welten passen nur bedingt zusammen. Filmemacher*innen wie Catherine Breillat oder Lars von Trier, die in diesen Bereichen experimentiert haben, geben den pornografischen Elementen lange nicht jene Dauer, wie es in einem richtigen Porno geschieht. Der explizite Sex dient immer noch dazu, die Charaktere zu erzählen, oder stilistisch transgressiv zu sein. Hätten diese Szenen tatsächlich das Ziel, das Publikum zu erregen oder sogar zum Orgasmus zu bringen, dann wären die verstörenden oder traumartigen Elemente der Filme dabei nicht gerade förderlich. Sayadians Filme dagegen halten sich an die Wiederholungs- und Attraktionslogik von Pornografie, oder des Vaudeville-Theaters – ein Vergleich, den er einmal in einem Interview anstellte, was auch manche seiner Kostümentscheidungen erklärt. Sie sind, mit Ausnahme von Dr. Caligari, zu viel Porno, um die David-Lynch-Fans abzuholen, aber auch zu viel Kunstkino, um zu erregen. Aber sie sind zweifellos etwas ganz Besonderes, das man als Fan des abseitigen Kinos einmal durchgestanden haben sollte.

Dazu gibt es nun endlich auch abseits von Pornoseiten die Möglichkeit: Sayadian selbst hat in den letzten Jahren das Analogmaterial zweier seiner wichtigsten Filme zusammengekratzt, die Rechte zurückerworben und ein Restaurationsteam versammelt. Die neue Abtastung von Dr. Caligari ist bereits vom US-Label Mondo Macabro auf Blu-ray veröffentlicht worden und sieht absolut fantastisch aus. Café Flesh soll folgen, die offizielle Ankündigung steht noch aus.

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Grafikdesign und Satire

Sayadian begann seine Medienkarriere als Fotograf und Grafikdesigner für Printmagazine, allen voran das Männermagazin Hustler. Das ist interessant, weil sich hier also bereits der Fokus auf den visuellen Stil erklärt, der seine Filme prägen sollte, bereits der Bezug zu Erotikthemen auftritt. Und weil seine Designs morbide Satiren sind, rückt ihn das bereits in die Nähe des Surrealismus. Sayadian veröffentlichte im Hustler etwa diverse Parodien von Zigarettenwerbung – wenn man so will, eine frühe Nichtraucherschutzkampagne.

Frühe Arbeit als Grafiker: Eine satirische Marlboro-Werbung

Später entwarf er mit einer eigenen Firma Filmplakate und VHS-Cover, darunter bekannte Titel wie Brian De Palmas Dressed to Kill, John Carpenters The Fog – Nebel des Grauens und Tobe Hoopers Funhouse. Seine Partner bei dieser Arbeit waren der Fotograf Francis Delia, der sich später noch als Musikvideo-Regisseur für unter anderem Starship und die Ramones einen Namen machen sollte, sowie der ehemalige Hustler-Redakteur und spätere Romanautor Jerry Stahl.

Sayadians Filmplakate: „Dressed to Kill“, „The Funhouse“.

 

Rinse Dreams

In diesem Trio entstand auch das erste eigene Filmprojekt: Nightdreams, geschrieben von Sayadian und Stahl, mit Delia auf dem Regiestuhl, veröffentlicht unter dem Pseudonym Rinse Dreams. Nightdreams ist ein Episodenfilm, eine Aneinanderreihung surrealistischer Sexszenen, die sich in den Träumen der Protagonistin abspielen: Sex in einer Müslibox, Sex in der Hölle und im Himmel. Die Männer, mit denen sie Sex hat, tragen skurrile Masken und Kostüme. An der Müsli-Szene etwa ist ein als Toastbrot verkleideter Mann beteiligt, der Saxofon spielt. Über den Film wurde vor allem in Erotikmagazinen berichtet, dort aber waren die Reaktionen euphorisch: „Der erste Avantgarde-Porno“, schrieb etwa der Playboy, und das Magazin Velvet sprach gar vom „Citizen Kane der Pornos“. Dass Sayadian in der Pornoszene landete, hatte wie bei vielen anderen Underground-Filmemacher*innen auch schlicht praktische, ja finanzielle Gründe: Hier bekam man ein Budget und relativ viel kreative Freiheit. Sayadian war aber ein Filmnerd und deshalb von Anfang an auf der Suche nach einer prägnanten künstlerischen Handschrift. In Interviews sagte er später, er habe nie das Ziel verfolgt, beim Publikum Lust zu erzeugen. Sex interessiere ihn ausschließlich als visuelles Motiv.

"Promiske Cerealien in „Nightdreams""
Promiske Cerealien in „Nightdreams“

Man kann die Handschrift in Nightdreams bereits erkennen: Der Sex ist inszeniert auf Sets, die zum einen durch ihre gemalten Hintergründe und schiefen Linien an den deutschen Expressionismus erinnern, zum anderen durch ihre Pastellfarben die New-Wave-Mode der Achtzigerjahre und den Look von TV-Serien wie Miami Vice reflektieren. Dass der Film trotz seines geringen Budgets schick aussieht, liegt daran, dass das Team durch seinen Werbe-Background die Sets früher Shoots recyceln konnte. Auch dieser Studio-Look soll sich durch Sayadians weitere Filmografie ziehen. Und schon mit dem Debüt erschloss er sich ein zweites Publikum: In den Mitternachtsvorstellungen der Programmkinos, eingereiht zwischen Exploitationfilmen, war Nightdreams ertragreicher als auf dem Markt für Porno-Videokassetten, und passte dort auch besser hin.

Das Trio Sayadian/Stahl/Delia legte dementsprechend mit dem noch Genrefilm-lastigeren Café Flesh nach: einem dystopischen Endzeitfilm, angesiedelt in einer Zukunftswelt, in der die Mehrheit der Gesellschaft keinen Sex mehr haben kann, ohne sofort schwer krank zu werden, und die wenigen „Sexpositiven“ deshalb alle Sexarbeitende sind, die in der titelgebenden Location skurrile Body-Horror-Performances aufführen. Der Film erschien 1982, das Motiv kollektiver sexueller Erkrankung verweist deutlich auf die AIDS-Krise. Dass innerhalb des Films Sex beobachtet wird, was als dystopisch und ausbeuterisch markiert ist, macht Café Flesh gar zu einem sich selbst dekonstruierenden Anti-Porno. Trotz all dieser Bedeutungsebenen bleiben erneut die durchgestylten Bühnenbilder und ihre Achtzigerjahre-Geometrie am deutlichsten im Gedächtnis, und die bloße Absurdität der Sexszenen: Der als Bleistift verkleidete Performer etwa kann mit dem Toastbrot aus Nightdreams gut mithalten.

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Dr. Caligari

Es ist nicht überraschend, dass Dr. Caligari als Erstes restauriert wurde. Der psychosexuelle Surrealismus überwiegt hier deutlich gegenüber der Pornografie, der visuelle Stil ist überbordend. Mal wieder musste Sayadian Kompromisse mit seinem Geldgeber machen: Robert Wienes Stummfilm-Klassiker zu zitieren, war nicht seine Idee. Um jedoch die Kontrolle über jedes kleinste Detail des Looks zu haben, drehte er nun ausschließlich auf elaborierten Sets statt on location. Weil in Hollywood gerade ein Streik der Drehbuchzunft stattfand, war er außerdem in der Lage, trotz eines Budgets von nur 100.000 US-Dollar gute Licht- und Bühnentechniker zu gewinnen und aus diesen Sets das Maximum herauszuholen.

Der Plot: Eine weibliche Doktor Caligari, womöglich eine Nachfahrin des Jahrmarktveranstalters, betreibt eine Nervenheilanstalt mit einem illustren Ensemble an Insassen – und sie hat großen Forschungseifer und wenig Interesse an Ethik. Dr. Caligari erfindet Körpermodifikationen und Fetische, bei denen wohl selbst David Cronenberg die Lust vergehen würde. In den windschiefen expressionistischen Sets werden Leute zu Latexgebilden umgebaut, mit riesigen züngelnden Mündern und eiternden Wunden. Der Ton des Films ist entrückt, die Dialoge und das Schauspiel Theater-artig überdramatisiert. Mitunter wirkt der gestelzte Vortrag wie Film-Noir-Satire. Kein Wunder: Gonzo-Kriminalromane sind inzwischen die Spezialität von Jerry Stahl, der auch hier wieder als Co-Autor mitwirkt. Die Kamera ist oft statisch, während indessen die Schauspielenden auf Dollys ins Bild und wieder herausgezogen werden, oder Bühnenelemente sich im Hintergrund bewegen wie auf einer Theaterbühne. Der ganze Film scheint zu schweben, was seine Traumartigkeit nur verstärkt. Dr. Caligari ist ein Meisterwerk des Undergroundfilms.

 

Das Porno-Erbe

Sayadian drehte noch einige weitere surrealistische Pornos, die auf Video erschienen, bevor er eine Leberzirrhose erlitt, die ihn 15 Jahre lang so sehr einschränkte, dass er nicht arbeiten konnte. Nach einer Organtransplantation geht es ihm aktuell endlich besser und er arbeitet nicht nur an der Wiederveröffentlichung seiner Filme, sondern auch an neuen Projekten.

Dass die Restauration von Dr. Caligari 2021 beim wichtigen Genrefilm-Festival Fantasia gezeigt wurde, wenn auch leider pandemiebedingt nicht in einem Kino, macht Mut: Berührungsängste sowie die sehr kunstlose Mainstream-Pornografie der Gegenwart führen dazu, dass wichtige Werke vergessen werden, wenn es darum geht, Underground-Filmerbe aufzustöbern und zu bewahren – auch 50 Jahre nach Deep Throat. Selbst die Arbeiten von Doris Wishman zum Beispiel waren aus diesem Grund schwer aufzutreiben, bis Vinegar Syndrome ihr letztes Jahr eine Blu-ray-Reihe widmete. Die Filmografie von Stephen Saydian zeigt wie kaum eine andere, dass in diesem Feld Schätze zu finden sind. Pornografie und Sexploitation waren nicht immer, aber doch immer wieder ein Auffangbecken für Künstler*innen mit großer Leidenschaft und großem Stilwillen, die im Mainstream schlicht keine Geldgeber fanden.

Meinungen

Stephen Sayadian · 29.12.2023

Dear Mathis,
One of my fans recently forwarded your essay to me. Many thanks for the insightful and lovely words. Google translations are usually
incomprehensible, but fortunately, your article was delightfully readable. Best wishes for 2024.
Fondly,
Stephen Sayadian
aka Rinse Dream (12/28/23)