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Locarno 2018

Die Provokation des Unfassbaren

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Nicht jeder Film, der in Locarno zu sehen ist, lässt sich so leicht verdauen. Aber der Wille des Festivalleiters Carlo Chatrian zur Provokation lässt auch das Beste für die Zukunft der Berlinale hoffen.

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Festivalleiter Carlo Chatrian
Festivalleiter Carlo Chatrian

Vor einigen Tagen war im Deutschlandfunk Kultur ein Interview mit dem bisherigen Leiter des Festivals in Locarno und künftigen Berlinale-Direktor Carlo Chatrian zu hören. Darin gab er sich als Kino-Provokateur: „Ich habe kein großes Problem damit, wenn man hier nach 20 Minuten aufsteht, aus dem Kino geht und sagt: Was soll das denn? Denn diese provozierenden Bilder werden mit dem Publikum bleiben. Ihre Radikalität, ihr Anderssein wird mit ihrem Alltag interagieren und sie werden sie nicht vergessen.“

Am Dienstagvormittag sitze ich in einer öffentlichen Vorführung von Closing Time. Das Kino ist gerappelt voll, die Schweizer Regisseurin Nicole Vögele ist anwesend — und Chatrian, der sie vor Beginn des Films dem Publikum vorstellt. Bevor sich die Spots auf den schmalen Bühnenstreifen vor der Leinwand richten, tänzelt er am Rande des Saals zwischen den Mitgliedern des Filmteams herum. Er wirkt etwas aufgeregt, wie ein schlaksiger Filmstudent bei seinem ersten Festivalpraktikum. Aber nichts bleibt mehr von diesem Eindruck, wenn er erst einmal zu reden beginnt. Dann strömt er sofort wieder diese Ernsthaftigkeit in seiner Liebe zum Kino aus wie im Interview mit dem Deutschlandfunk.

Die Regisseurin Nicole Vögele (links) und ihre Produzentinnen
Die Regisseurin Nicole Vögele (links) und ihre Produzentinnen; Copyright: Katrin Doerksen

 

Die Stimmung im Saal ist dementsprechend erwartungsvoll — trotzdem verlassen nach einer guten halben Stunde eine Handvoll Zuschauer das Screening. Ab da tröpfeln in regelmäßigen Abständen immer wieder einzelne Zuschauer aus dem Saal. Man merkt das, weil Mitarbeiter dann diskret die Treppen mit ihren Taschenlampen bescheinen. Aber es ist doch ein behutsames Hinausgehen. Kein augenrollendes, mit stampfenden Schritten und fliegenden Türen wie noch im Februar bei der Pressevorführung des späteren Berlinale-Gewinners Touch Me Not. Hier ist es stiller, respektvoller, ein bisschen resignativ auch. Als würde man sich eingestehen, dass man mit dem Gesehenen gerade nicht umgehen kann oder will. Closing Time provoziert mit einem Ereignis namens: nichts passiert.

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(Trailer zu Closing Time)

 

Dabei sollte doch gerade das Nichts in einem Ort wie Locarno auf Resonanz stoßen, der trotz seiner ungewöhnlich hohen Dichte an Kinos oder Orten, die sich zu solchen umfunktionieren lassen, kaum darüber hinwegtäuscht, dass einem hier abseits des Festivals recht schnell die Aktivitäten ausgehen können. Die Stadt weiß das. Eine sommerliche Melancholie liegt auf ihr, wenn man nachts das Kino verlässt. Die meisten Straßen sind dann menschenleer, es riecht nach warmem Gras, Nick Cave singt: „the night was hot and black.“ Sie ist so schwarz, dass man die Umrisse der Berge nur vor dem Himmel ausmachen kann, wenn das regelmäßige Wetterleuchten sie erhellt.

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Das mag ein wenig schwurbelig klingen, aber nach zwei Tagen in Locarno bin ich empfänglich für alles, was Tatsachen übersteigt. Das ist wohl die Gemeinsamkeit, die die bisher gesehenen Filme miteinander verbindet. Sie sind von Legenden oder Märchen inspiriert, sie kultivieren einen Sinn für… nein, es ist weder Realitätsflucht, noch Esoterik. Eher ein Bewusstsein dafür, dass wir als Individuen trotz unseres übersteigerten Selbstbewusstseins nicht alles unter Kontrolle haben. Nicole Vögele liefert ihre Figuren in Closing Time einem eng getakteten Arbeitsrhythmus aus, hypnotisiert von rotierenden Ventilatoren und dem unaufhörlichen Surren der Kühlaggregate im nächtlichen Taipeh. Eine Umgebung, in der man den Verstand zu verlieren droht, ohne es zu bemerken. In Thomas Imbachs Glaubenberg ist es Lea (Zsofia Körös), die in der unerfüllten Liebe zu ihrem Bruder langsam entgleitet. Der vom Mythos um Byblis und Kaunos inspirierte Film mäandert wunderbar zwischen verschiedenen Traum- und Bewusstseinsstadien umher. Dann ist da noch Fausto von Andrea Bussmann, der an einem mexikanischen Küstenabschnitt Geistergeschichten sammelt, über die wir Menschen zwar reden können, die die Tiere aber wesentlich besser verstehen. Vor allem jene, die im Dunkel besser sehen können und deswegen schwer zu domestizieren sind, Bussmann schreibt ihre Namen in einer Liste auf die Leinwand.

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(Teaser-Trailer zu Glaubenberg)

 

Was mich zum einen Film führt, der völlig aus der Reihe fällt. Trote von Xacio Baño hat alles: schnaubende Wildpferde, das sanfte Licht Galiciens, Gesichter wie grob aus Felsblöcken gehauen, Musik und Tanz und dennoch ist es ein Film, so staubtrocken wie ein Feldweg am Ende eines regenlosen Sommers. Er zeigt eine Welt ohne jede Empathie, freudlos, wortkarg und lustfeindlich, die es mit Sicherheit wert ist, gezeigt zu werden. Nur vergisst Baño einen Hinweis darauf zu geben, wieso. Aber vielleicht hat mich der Film auch nur an der falschen Stelle provoziert. Chatrian hat schon recht, wenn er im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur sagt: „ Manchmal muss man aber provozieren. Das ist doch die Funktion eines Festivals. Und in Locarno hatte ich bislang eine große Freiheit das zu tun.“ Hoffentlich wird er diese Freiheit auch in Zukunft haben.

Locarno
Copyright: Katrin Doerksen

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