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Kolumnen

Filme, die wir zu kennen glauben

Ein Beitrag von Alex Matzkeit

Es gibt Filme, die glaubt man zu kennen, obwohl man sie nicht gesehen hat. Kein Wunder, bei der Menge Drumherum-Produkte, mit der moderne Blockbuster ausgestattet werden. Oft genug jedoch trügt der Schein.

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Angriff der Klonkrieger - Bild
Angriff der Klonkrieger - Bild

Elisa ist 9 Jahre alt und hat bis vor kurzem noch nie einen „Star Wars“-Film gesehen. Ihre Eltern wollen ihr einfach nicht erlauben, die Filme der Weltraumsaga zu erleben, weil sie erst ab 12 Jahren freigegeben sind. Das stinkt Elisa mächtig, vor allem weil in ihrer Klasse natürlich alle anderen Kinder die 9 Filme längst sehen durften. Trotzdem kennt sie alle bisherigen Filme in- und auswendig.

Seit ihr vor ein paar Jahren ein befreundete Erwachsener einen Stapel „Force Attax“-Sammelkarten geschenkt hat, im Grunde eine Art Jedi-Quartett, ist Elisa Feuer und Flamme für Star Wars. Sie kennt jeden noch so kleinen Charakter mit Namen. Sie weiß genau, wer wann gegen wen kämpft und wie das Duell ausgeht. Überhaupt – das mag dem kämpferischen Charakter der Karten geschuldet sein – geht es in ihrer Sicht bei Star Wars hauptsächlich um Duelle. Politische Konflikte und Liebesgeschichten sind zweitrangig. Ihre Lieblingsszene aus der ganzen Filmreihe ist der Kampf zwischen Obi-Wan Kenobi und Count Dooku in Angriff der Klonkrieger, „wo dann später Yoda dazukommt“. 

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Wie gesagt, Elisa hat Angriff der Klonkrieger nicht gesehen. Aber neben ihren Sammelkarten besitzt sie inzwischen auch mehrere Bücher zum Thema. Seit Weihnachten hat sie die Hörspiele auf CD. Und natürlich hört sie auch die farbenfrohen Beschreibungen ihrer Klassenkameraden immer wieder. Zu Star Wars existieren so viele Paratexte, dass Elisa keinen der Filme gesehen haben muss, um genau zu wissen, was im großen Fantasy-Franchise so alles passiert. Es reicht, dass sie alles drumherum kennt.

Wie gut dieses Erlebnis gerade in einem so detailliert ausgearbeiteten Universum wie dem von Star Wars funktioniert, beweist auch das Buch Star Wars: From a Certain Point of View, das 2017 zum 40. Geburtstag des ersten Films erschien. Es zeichnet in 40 Kurzgeschichten die Handlung von Eine neue Hoffnung aus der Perspektive von Figuren nach, die im Film nur im Hintergrund zu sehen sind. Wer das Buch liest, erlebt Star Wars noch einmal, ohne den eigentlichen Film zu sehen. Lesende ertasten den Film sozusagen an seinen Rändern, als wären sie Ben Hur, dessen Film ja auch im Untertitel A Tale of the Christ heißt, obwohl er Christus’ Lebens- und Passionsgeschichte immer nur streift. In der Summe setzt sich das Bild aber trotzdem irgendwie zusammen. Ein faszinierendes Leseerlebnis.

Somit ist es heute gar keine Seltenheit mehr, einen Film vermeintlich zu kennen, ohne ihn gesehen zu haben. Nicht umsonst hat sich unter manchen Filmfans eine Schule herausgebildet, in der versucht wird, sämtliches Marketingmaterial zu einem neu erscheinenden Film zu meiden, um sich nicht vorab in seinem Genuss stören zu lassen. Wer wird es ihnen verdenken können, so wie Trailer heute häufig aussehen? 

Gary Oldman in "Die dunkelste Stunde"
Gary Oldman in „Die dunkelste Stunde“

Mit ein bisschen historischem Grundwissen, ein bisschen Seherfahrung und einem Trailer braucht man sich etwa einen Film wie Die dunkelste Stunde schon gar nicht mehr anzuschauen. Man kann sich ohnehin sehr genau vorstellen, wie der Film aussehen und sich anfühlen wird – wahrscheinlich wie The King’s Speech, nur eben mit Churchill statt mit Georg VI. Und je unsicherer sich Vermarkter bei der Qualität des Films sind, umso deutlicher zeichnen sie seine Umrisse vor: Im Jahr 2012 konnte ein Nutzer aus allen Trailern, Clips und TV-Spots, die Sony vorab zu The Amazing Spider-Man veröffentlichte, eine 25-Minuten-Fassung des Films zusammenschneiden, bevor der Film in den Kinos war.

Noch häufiger verfolgt einen dieses Gefühl, den Film schon zu kennen, bei Klassikern. Diese sind einem im Laufe eines kulturellen Lebens schon so oft in Form von Parodien, Anspielungen und Nacherzählungen begegnet, dass man längst glaubt, sich die Arbeit auch sparen zu können. Muss ich noch Gene Wilders legendären Auftritt in Charlie und die Schokoladenfabrik sehen, wenn ich doch die Futurama-Folge „Fry and the Slurm Factory“ kenne? Ist Mein Essen mit André noch eine Sichtung wert, wo ich doch Handlung und zentrale Wendungen bereits über „My Dinner with Abed” aus Community aufgenommen habe? Lohnt es sich noch, Al Pacinos Scarface 2 Stunden und 50 Minuten meiner kostbaren Zeit zu widmen, wenn ich doch schon zu Studienzeiten dutzende “Say hello to my little friend”-Poster in den Zimmern meiner Kommilitonen gesehen habe?

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Die Antwort, genau wie der Name der Billig-Eigenmarke von Rewe, lautet natürlich „Ja!”. Aber nicht nur aus dem offensichtlichen Grund, dass selbstverständlich kein indirektes Wissen über einen Film das direkte Erleben, mit Bildern, Musik, Inszenierung und realer Zeitdauer, ersetzen kann. Sondern auch, weil die Wahrnehmung eines Films über Bande oft Aspekte ausspart, die vielleicht weder dem Marketing im Vorfeld noch dem Gros jener, die den Film in seiner Rezeptionsgeschichte weiterverarbeiten, besonders wichtig erscheinen. Für den Einzelnen oder die Einzelne können sie aber einen großen Unterschied machen. Ben Hur hatte das Glück, Jesus Christus in den entscheidenden Momenten zu begegnen. Aber genauso hätte er wie im hinduistischen Gleichnis als blinder Mann einen Elefanten ertasten und sich ein völlig falsches Tier vorstellen können.

Mir persönlich ging es beim Aufholen von Filmen, die ich längst zu kennen glaubte, immer wieder so. Alle Tanzszenen-Ausschnitte und der gesamte Bee-Gees-Soundtrack von Saturday Night Fever konnten mich nicht auf die dreckigen Handkamera-Szenen des Sozialdramas vorbereiten, das sich zwischen John Travoltas Disco-Einlagen entfaltet und aus einem hübschen einen großartigen Film macht. Aus meiner Erstsichtung von Apocalypse Now blieben mir weniger die zigfach referenzierten Walküren-Hubschrauber im Kopf, sondern vor allem die Dialoge und die sich endlos ziehende Reise ins Ungewisse. Und Der große Diktator überraschte mich damit, dass sein Höhepunkt nicht in der berühmten Szene besteht, in der Charlie Chaplin mit einer Erdkugel tanzt, sondern in einem langen, gesprochenen Appell an die Menschlichkeit. 

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Kurz gesagt: Filme sind oft ganz anders, als was wir glauben, über sie zu wissen. Sie indirekt zu erleben, über ein Netz aus Verweisen und Berührungspunkten, hat, wie im Fall von A Certain Point of View, zwar seine epistemologischen Reize. Die wahre Abgefahrenheit aber steckt darin, die vorgestellte Gestalt eines Films dem Realitätscheck zu unterziehen. Das gilt sogar für so exponierte, längst durch Millionen Prismen gebrochene Filme wie Star Wars. Man möchte glauben, dass selbst die Leute sie kennen, die sie nicht gesehen haben. Aber sie kennen sie eben nicht ganz. 

So ging es auch Elisa, als ihr Vater vor kurzem endlich einen Fußbreit nachgab und ihr erlaubte, Eine neue Hoffnung zu schauen. Es wäre zwar alles ungefähr so gewesen, wie sie es sich gedacht hatte, erzählt sie. Aber Luke hatte sie sich anders vorgestellt. „Wie genau?”, frage ich, wohl wissend, dass über die wahre Natur von Luke Skywalker unter Star Wars-Fans seit Die letzten Jedi ein Deutungskrieg tobt. Zum Glück sind Elisas Probleme mit dem über Jahre aufgestauten Bild in ihrem Kopf aber nicht ganz so gravierend. „Er hatte komische Schuhe”, sagt sie, „und seine Frisur war auch merkwürdig.”

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