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Interviews

"Wir sind nicht mehr in der Lage, uns der Barbaren zu erwehren"

Ein Beitrag von Paul Katzenberger

In Der Hauptmann wird ein Deserteur der Wehrmacht zum Massenmörder. Regisseur Robert Schwentke sieht seinen Film als prophylaktische Maßnahme — gegen Aggressoren der Sorte Trump.

Meinungen
Der Hauptmann von Robert Schwentke
Der Hauptmann von Robert Schwentke

Der Film Der Hauptmann erzählt eine wahre Geschichte: Im April 1945 irrt der versprengte Gefreite Willi Herold (Max Hubacher) irgendwo im norddeutschen Niemandsland umher. Er gilt als Deserteur und seine Häscher sind ihm dicht auf den Fersen. Doch dann findet er in einer Offizierskiste eine deutsche Hauptmannsuniform — und schlüpft hinein. Plötzlich Befehlshaber, unterstellen sich ihm ein Dutzend verstreuter Soldaten, darunter der kadavergehorsame Freytag (Milan Peschel) und der raufsüchtig-versoffene Kipinski (Frederick Lau). Bald lässt Herold aufgegriffene Menschen hinrichten, erst um vor seinen Leuten die Fassade zu wahren, dann immer mehr aus Machtbesessenheit. Im Strafgefangenenlager Aschendorfermoor im Emsland befiehlt Herold schließlich mehr als 100 Gefangene willkürlich zu massakrieren. 1946 wird er als Kriegsverbrecher hingerichtet. Regisseur Robert Schwentke (R.E.D. — Älter, Härter, Besser) hat die gespenstische Köpenickiade ganz bewusst aus der Täterperspektive heraus verfilmt.

 

 

Kino-Zeit: Wer sich Ihren Film ansieht, der wird das Gefühl nicht los, dass Sie die Zuschauer mit „Der Hauptmann“ tief beunruhigen wollen. Liegt man mit diesem Eindruck richtig?

Robert Schwentke: Es gibt sehr viele Filme über den Nationalsozialismus, die versöhnlich wirken. Das kann beim Zuschauer zur Passivität führen, weil er das Gefühl bekommt, dass die Geschichte zu Ende ist, wenn der Film zu Ende ist. Dass die Probleme beseitigt wurden, oder dass zumindest inzwischen eine große Distanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart besteht. Diesen Eindruck wollten wir vermeiden und stattdessen einen verstörenden Film machen, den der Zuschauer mit nach Hause nimmt. Einen Film, der Fragen offen lässt, ganz gewollt, und der hoffentlich kontrovers diskutiert wird.

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Welche Probleme sind das denn, deren Lösung die vielen anderen NS-Filme zu Unrecht suggerieren? Den NS-Staat haben wir ja überwunden.

Die Strukturen des Nationalsozialismus spielen in Der Hauptmann natürlich eine große Rolle, aber es geht auch um die menschliche Natur und die Tatsache, dass wir die enorme Fähigkeit haben, einander weh zu tun. Dass wir oft genug die Macht mit Waffengewalt an uns reißen. Das Massaker, das der Film darstellt, ist ja nicht etwas, was es nur in der Vergangenheit gab. Der Film handelt gewissermaßen auch vom IS, von den Pogromen im Kosovo in den Nullerjahren, vom Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda 1994 oder jetzt im Moment von den Ausschreitungen gegen Nicht-Muslime in Indonesien.

Was folgt aus der Erkenntnis, dass der Mensch sehr böse sein kann?

Dass diese Vergegenwärtigung nur der erste notwendige Schritt ist. Denn wir sind mit unserer westlichen, liberalen, sozialen und demokratischen Denkweise nicht mehr in der Lage, uns der Barbaren zu erwehren. Oder wie soll ich es erklären, dass Donald Trump nun eine der ältesten Demokratien der Welt regiert? Ein Mann, der die Demokratie nicht respektiert, und den der Konsens nicht interessiert. Es war ein Riesenfehler Trumps Auftreten als Show auszubeuten und nicht ernst zu nehmen. Man muss sich damit auseinandersetzen, auch mit der Rhetorik. Das ist nicht nur daher geplappert. Wenn dieses Geschrei erst einmal in den Diskurs fließt, dann ändert sich der — genauso wie es passiert ist. Der Meinungsstreit wird schärfer, es wird emotional argumentiert und nicht mehr faktisch.

Was hätte man tun sollen? Trump den Mund verbieten?

Nicht per Verfügung. Prinzipiell bin ich gegen die Zensur. Wir wissen aber seit der Weimarer Republik, dass sich die Demokratie wehren können muss. Und wenn jemand die Demokratie abschaffen will, dann kann er auch am demokratischen Prozess nicht teilnehmen, das ist ja das Grundprinzip der wehrhaften Demokratie.

Der Hautptmann; Copyright: Weltkino
Der Hauptmann; Copyright: Weltkino

Sehen Sie mit der AfD auch in Deutschland bereits Barbaren am Werk?

Zumindest höre ich in Deutschland viel Rhetorik, die mich sehr beunruhigt. Die derartig scharf formuliert ist, das muss man ernst nehmen. Denn Genozide und Massaker haben eins gemein: Dass es immer mit der Rhetorik anfängt — einer entmenschlichenden Rhetorik, die Feindbilder schafft, die den Feind dehumanisiert.

Haben Sie dafür Beispiele?

Beim Völkermord in Ruanda ging es damit los, dass die Hutu die Tutsi als „Kakerlaken“ bezeichnet haben, was die so Genannten zunächst als Witz aufgefasst haben. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass dies in irgendeiner Weise zu einem Genozid führen könnte. Auch der Film beleuchtet diesen Mechanismus, da werden die Deserteure als „Ungeziffer“ tituliert.

Sie konfrontieren den Zuschauer aber mit einer noch viel weitreichenderen Frage: wie er selber in der Situation gehandelt hätte.

Der ideale Zuschauer ist aus meiner Sicht genau derjenige, den Sie gerade beschrieben haben. Der fragt sich: ‚Was hätte ich getan?‘

Ist das der Grund, warum Sie den Zuschauer mit einem Film aus der Täterperspektive konfrontieren?

Ja, sicher. Wobei das für sich genommen nicht ausgereicht hätte. Wichtig war gleichzeitig auch, dass es kein Film aus der Perspektive der Haupttäter wird, von denen es übrigens in Deutschland auch nur zwei gibt (Aus einem deutschen Leben mit Götz George (1977), eine fiktive Biographie von Rudolf Höß, und Wannsee-Konferenz (1984), Anm. d. Red.), sondern ein Film über die dritte, vierte oder fünfte Täterreihe.

Warum?

Weil man es da mit einem Täterspektrum zu tun hat, das nicht nur ideologisch motiviert ist. Man begegnet Opportunisten, Kriminellen, Leuten, die vielleicht aus Furcht handeln, Mitläufern. Vor allem handelt es sich um normale Menschen. Es geht um unsere Nachbarn — und vielleicht um uns selbst. Es ist unheimlich einfach, sich von Höß zu distanzieren, oder von Josef Mengele, es ist vielleicht weniger einfach, sich von Freytag zu distanzieren.

Der Hautptmann; Copyright: Weltkino
Der Hauptmann; Copyright: Weltkino

Aber gerade weil man sich in die Zwangslage Freytags als Zuschauer ja sehr leicht hineinversetzen kann, entschuldigt man vielleicht seine Taten.

Der Zuschauer kann sich dem schon stellen, aber er muss einen Schritt weiterdenken. Natürlich gibt es da die Figur des Willi Herold, der überleben will, der essen will, der nicht an die Front will. Natürlich steckt er in Zwängen. Und doch denke ich, dass sich die Zwangslage sehr bald als gar keine Zwangslage entpuppt. Für Herold eröffnete sich immer wieder die Möglichkeit nicht weiterzugehen.

Warum treffen junge Leute, die in das Deutschland des 20. Jahrhunderts hineingeboren wurden, plötzlich solche grausamen Entscheidungen?

Das ist die Kernfrage, die der Film stellt und die mit einer weiteren Frage verbunden ist: Was passiert, wenn niemand nein sagt? Damit eine solche kulturelle Katastrophe passieren kann, müssen viele entweder mitmachen oder sich nicht dagegen wehren, was aufs Gleiche hinausläuft.

Warum sich also nicht wehren?

Das hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass Ausnahmesituationen wie der Krieg Menschen plötzlich die Möglichkeit eröffnen, Hemmungen fallen zu lassen und Machtphantasien auszuleben, die sie in der Zivilisation unterdrücken müssten. Wenn der gemeinsame Feind wegfiel, haben diese militaristischen Männerverbünde typischerweise damit angefangen, sich gegenseitig umzubringen. Das liegt in der Psychologie solcher soldatischer Männergruppierungen, wie Klaus Theweleit sehr schön herausgearbeitet hat. Seine Untersuchung Männerphantasien (von 1977, Anm. d. Red.) war ein sehr wichtiges Buch für diesen Film.

Der Hautptmann; Copyright: Weltkino
Der Hauptmann; Copyright: Weltkino

Heißt das, dass im Krieg ganz generell die einzige geistig gesunde Reaktion im Weglaufen besteht.

Dafür spricht sehr Vieles. Ich habe zum Beispiel allergrößte Schwierigkeiten, über heldenhaftes Verhalten im Krieg nachzudenken. Die Situation des Krieges ist einfach nur absurd, und wenn jemand in diesem Kontext heldenhaft ist, bin ich mir nicht sicher, ob er in meinem normalen Kontext auch heldenhaft wäre. Das normale menschliche Verhalten besteht zum Beispiel darin, von Explosionen wegzulaufen. In die Explosion reinzulaufen, ist daher auf einem genetischen Level fast unmöglich. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass es sehr wenige Anti-Kriegsfilme gibt, weil viele so genannte Antikriegs-Filme diese Art der Dramatik nutzen.

Können Sie Beispiele nennen?

Zum Beispiel geht es in Der Soldat James Ryan — angeblich ein Anti-Kriegsfilm — darum, irgendwelche MG-Nester zu stürmen. Sobald man sich auf dieses: ‚Oh, wir müssen jetzt da hoch und wir müssen die jetzt erschießen“ einlässt, ist das kein Anti-Kriegsfilm mehr. Weil das Töten als etwas Sinnvolles hingestellt wird.

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Der D-Day wird heute auf der ganzen Welt gefeiert — als Anfang vom Ende des Dritten Reiches.

Meine Kritik an Anti-Kriegsfilmen, die keine sind, bedeutet überhaupt nicht, dass ich die Möglichkeit eines „gerechten Krieges“ verneine. Es gibt natürlich einen „gerechten Krieg“, zum Beispiel der gegen Hitler. Nur wird der leider nie gerecht geführt.

In dem Sinn ist „Der Hauptmann“ sicher ein Anti-Kriegsfilm, weil er den Krieg stets als etwas Perverses darstellt — etwa als Herold Gefangene dazu zwingt Mitgefangene zu erschießen. Sind diese Situationen historisch verbürgt, oder sind das Fiktionen, die Sie eingefügt haben?

Nahezu der gesamte Film ist historisch verbrieft. Was an unabhängigen Quellen vorhanden war, habe ich im Oldenburger Staatsarchiv recherchiert, da liegt die letzte Akte vor. Zum Beispiel sind viele Dialoge des Films wörtlich so geführt worden und auch die Szene mit den Erschießungen der Gefangenen durch Mitgefangene basiert auf wahren Begebenheiten. Das waren zwei Komödianten, die hat Herold unter den Gefangenen rekrutiert, in eine Uniform gesteckt, und die haben an Erschießungen teilgenommen. Mir war die historische Fundierung des Filmes sehr wichtig.

Warum?

Weil das extrem abgründige Vorgänge sind, mit denen ich mich zwar auseinandersetze, die ich aber nicht kreiert habe. Das ist ein wichtiger Unterschied, weil es mir erlaubt, die Geschichte und den Charakter des Willi Herold als etwas zu empfinden, mit dem ich zunächst nichts zu tun habe. An dem ich mich reiben kann, das ich kritisieren, herausfordern, interpretieren und mich daran abarbeiten kann. Wenn das eine Handlung gewesen wäre, die ich mir selbst ausgedacht habe, wäre es mir schwerer gefallen mich zu distanzieren.

Der Hautptmann; Copyright: Weltkino
Der Hauptmann; Copyright: Weltkino

Dann gehörten die auffällig übertriebenen Darstellungen vermutlich zu Ihrer persönlichen Abarbeitung an den Täterfiguren des Films? Als der Lagerleiter Hansen von einer Fliegerbombe zerfetzt wird, sieht das ja aus wie in einem Splatterfilm von Quentin Tarantino.

Die höchste Leistung des Humors ist für mich, die Willkür und die Boshaftigkeit zu entlarven. Diese Figuren durch Überzeichnung lächerlich zu machen, war mir natürlich ein Anliegen.

Die Kritik hat ihren Film überwiegend wohlwollend aufgenommen, aber den Abspann, in dem das „Schnellgericht Herold“ in das heutige Görlitz einfällt und willkürlich Passanten drangsaliert, hat man Ihnen um die Ohren gehauen. Was antworten Sie Ihren Kritikern?

In dem Abspann geht es nicht wortwörtlich darum, dass Nazis wieder in den Straßen von Deutschland unterwegs sind. Das ist viel globaler und symbolischer gedacht. Ich will den Zuschauer dazu ermuntern, sich die Frage zu stellen, was denn wäre, wenn er in der zivilisierten Welt plötzlich jemandem gegenüber stünde, der bis an die Zähne bewaffnet ist, und der nach Papieren verlangt. Was würden wir tun in einer Situation, von der wir immer behaupten und glauben, dass sie weit weg ist und uns nicht betrifft, weil sie normalerweise in Nordafrika oder in Syrien stattfindet? Aber sie betrifft uns genauso, auf viele Arten und Weisen.

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