Wenn der Vorhang fällt

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Klassentreffen des LK Deutsch

Wenn man etwas liebt, etwas total in sich aufgesogen hat, dafür mit heißem Herzen entbrannt ist, neigt man gelegentlich dazu, genau dies zu personalisieren, darin einen (natürlich geliebten) Menschen zu sehen, mit dem man sich in einer Liebesbeziehung befindet. Dies ist auch der Ursprungsimpuls, die Haltung, die am Anfang von Michael Münchs Deutschrap-Geschichtsstunde Wenn der Vorhang fällt steht. Wie denn deutscher HipHop wäre, wenn man sich ihn als Mensch vorstellen würde, befragt er seine Interviewpartner und Zeitzeugen, seine Gewährsmänner und Protagonisten und versucht so, sich dem Gegenstand seines abstrakten Porträts anzunähern. Nach Sekou Nebletts Blacktape ist dies bereits die zweite Beschäftigung mit dem Thema – und bezeichnenderweise wählte auch der Vorgänger den Weg über eine – wenngleich fiktionalisierte – Personalisierung.
Rund 30 Jahre ist es her, dass Ende der 1980er Jahre eine nennenswerte deutsche HipHop-Kultur, die sich auf die „Muttersprache“ besinnt, irgendwo zwischen Heidelberg und Stuttgart ihren Anfang nimmt. Kein Wunder also, dass die Stieber Twins und Toni L (Advanced Chemistry), beide in Heidelberg beheimatet, in Wenn der Vorhang fällt ebenso ihren Platz finden wie Max Herre (Freundeskreis, Die Kolchose) und Smudo von den Fantastischen 4. Gemeinsam mit anderen (ehemaligen oder noch aktiven) Protagonisten der Szene wie Paul Würdig alias Sido, Moses Pelham vom Rödelheim Hartreim Projekt, MC Rene, Afrob und Samy Deluxe, Prinz Pi und Materia lassen sie die verschiedenen Phasen und Entwicklungsstufen des Deutschrap Revue passieren, schwelgen in Erinnerungen, erzählen launige Anekdoten, verteidigen Positionen von damals (unter anderem die immer noch spürbare Gegnerschaft zwischen Alter und Neuer Schule, die in den Konflikten zwischen den Fanta 4 und Advanced Chemistry augenfällig wurde) oder geben sich versöhnlich, gereift und manchmal sogar froh, dem Druck entkommen zu sein, wie man am Fall der beiden Mitglieder der mittlerweile aufgelösten Formation Blumentopf sehen kann.

In locker angeordneten Interviews erzählt der Film in drei Kapiteln von den Anfängen im Underground, dem ersten Boom in den 1990er Jahren und der Ausdifferenzierung des Genres, die bis heute anhält. Dabei reihen sich tiefere Einsichten an manchmal eher Banales, assoziative Gedankenschnipsel an Reflektiertes und mehr als einmal hat man den Eindruck, einer Art Klassentreffen beizuwohnen, bei dem den gemeinsamen Anfängen ebenso gehuldigt wird wie den individuellen Wegen, die man genommen hat.

Natürlich lebt jede Geschichtsstunde, jede Chronologie eines so großen und umfassenden (pop)historischen Prozesses notwendigerweise und gerade im Format eines Dokumentarfilms für das Kino vom Zuspitzen und Weglassen, von der Nivellierung heterogener Entwicklungen und dem Vergessen von Randständigem. Und so muss sich Wenn der Vorhang fällt nicht nur an dem messen lassen, was er zeigt, sondern auch an dem, was er nicht zeigt, nicht erzählt, nicht erwähnt: Beispielsweise fehlt neben einzelnen Persönlichkeiten vor allem eine Würdigung des Beitrags, den Frauen wie Cora E., Schwester S. oder Sookee geleistet haben, schmerzlich. Bleibt man beim Bild des Klassentreffens eines Deutsch-LKs, dann muss die „School of HipHop“, die die Interviewten besucht haben, wohl eine reine Jungsschule gewesen sein.

Was am Ende ebenfalls fehlt – und das ist gerade angesichts des Themas sehr erstaunlich –, ist die Musik. So ist Wenn der Vorhang fehlt vor allem ein wortlastiges Werk, das sich an diejenigen richtet, die gemeinsam mit dem HipHop älter geworden sind, die die Songs, von denen hier überwiegend gesprochen wird, im Ohr haben und auswendig können. Und deshalb sei es an dieser Stelle erlaubt, an eine der schönsten musikalischen Rekapitulationen der Vergänglichkeit von musikalischem Ruhm zu erinnern, die der deutsche HipHop jemals hervorgebracht hat.

Torch und Toni L — Wir waren mal Stars

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Wenn der Vorhang fällt

Wenn man etwas liebt, etwas total in sich aufgesogen hat, dafür mit heißem Herzen entbrannt ist, neigt man gelegentlich dazu, genau dies zu personalisieren, darin einen (natürlich geliebten) Menschen zu sehen, mit dem man sich in einer Liebesbeziehung befindet. Dies ist auch der Ursprungsimpuls, die Haltung, die am Anfang von Michael Münchs Deutschrap-Geschichtsstunde „Wenn der Vorhang fällt“ steht.
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