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Was Ende der 1960er Jahre als „Krautrock“ verspottet wurde, hat sich 50 Jahre später als wichtigster deutschsprachiger Beitrag zur internationalen Pophistorie etabliert. In der Musikdokumentation „Krautrock 1“ blicken einstige Heroen von Can oder Faust auf die Genese jenes einzigartigen Sounds zurück.

Krautrock 1 (2019)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Reformhaus Westdeutschland

Als David Bowie 1997 auf Thomas Gottschalks „Wetten, dass?“-Couch saß und dem sichtlich irritierten Showmaster seine drei deutschen Lieblingsbands – namentlich Kraftwerk, Harmonia und NEU! – auflistete, herrschte sofort spürbare Irritation im Publikum wie vor den heimischen TV-Geräten. Kraftwerk? Na klar. Von denen hatte wohl jeder zumindest schon einmal „Autobahn“ oder „Das Model“ im Radio gehört. Aber Harmonia? Gar NEU? Wer sollte das denn bitteschön sein? Und wie klangen die überhaupt?!

Obwohl die einst populärste Sendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks damals sogar in der Münsterlandhalle, sprich in direkter Luftlinie nach Düsseldorf und Köln, aufgezeichnet wurde, meldete sich tatsächlich nur ein einziger Gast im Publikum, dem alle drei Bandnamen geläufig waren. Dieser kurze, gleichsam goldene wie skurrile Fernsehmoment der jüngeren TV-Geschichte sagt in all seiner Absurdität – ein englischsprachiger Popzirkus-Superstar lobt westdeutsche Avantgarde-Musik der frühen 1970er Jahre vor Millionen Fernsehzuschauern über den Klee und erntet bloßes Kopfschütteln – und in der Summe sehr viel über die Beziehung der Deutschen zu den ihnen lange Zeit unbekannten Musikpropheten aus dem eigenen Land aus.

Adele Schmidt und José Zegarra Holder beginnen zwar nicht mit diesem legendären Archivausschnitt ihre ebenso kenntnis- wie materialreiche Musikdokumentation Krautrock 1, aber damalige Musikrevoluzzer wie Irmin Schmidt, Jaki Liebezeit (1938-2017) oder Damo Suzuki von Can, deren unkonventionellen Sound David Bowie ebenso verehrte, kommen darin ausgiebig zu Wort. Nicht umsonst war es gerade der Ligeti- und Stockhausen-Schüler Irmin Schmidt, der mit dem Schlachtruf „Man muss das Alte loswerden, um Neues zu schaffen!“ den musikalischen Neustart in Westdeutschland maßgeblich initiierte.

Der „Neue Musik“-Vertreter und studierte Komponist erfand mit seinen nicht minder avantgardistischen Mitstreitern wie Holger Czukay oder Michael Karoli als Kölner Band Can Ende der 1960er Jahre nichts weniger als die Pop- und Rockmusik komplett neu, indem er Free Jazz, Motorik, Funk, Indie-Rock und psychadelische Sounds zusammen mit elektronischen Instrumenten zu einer völlig unerhörten Soundmixtur vereinte. Und so verwundert es nicht, dass Cans stilprägende TV- und Kinosoundtracks (z.B. für den Kult-Tatort „Tote Taube in den Beethovenstraße“ oder Roland Klicks Neo-Western Deadlock) oder deren Blueprint-Alben „Monster Movie“ (1969) und „Tago Mago“ (1971) auch heute noch ungemein innovativ klingen.

Teils knarzig-kauzig, teils esoterisch-fanbasemäßig und in der Form eines Dauer-Loops wurde dann auch Krautrock 1 montiert. Ohne Angst vor dramaturgischen Längen und im erkennbaren Kampf um O-Ton-Geber und Musik- wie Archivbildlizenzen haben Adele Schmidt und José Zegarra Holder nun ihren mehrjährigen Dokumentationszyklus zum Krautrock-Phänomen nun auf das Rheinland, Hamburg sowie das Ruhrgebiet fokussiert. Für die beiden nächsten Teile ihres Langzeitprojekts sind sie außerdem in weitere „Cosmic Music“-Zentren wie (West-)Berlin und München gereist, wo beispielsweise Tangerine Dream, Ash Ra Tempel und Cluster bzw. Amon Düül II, Embryo oder Popol Vuh ihre teilweise globalen Karrieren starteten, was in Krautrock-Kreisen automatisch Vorfreude weckt.

Als gegenkulturelle Bands, die frei von gängigen Kompositionsstrukturen oder klassischen Besetzungen agierten, wollten all die in Krautrock 1 porträtierten Musiker vor allem eines: bloß nicht provinziell-hinterwäldlerisch klingen oder sich an die angloamerikanisch dominierte Musikindustrie verkaufen! Mit Ausnahme von Faust und Tangerine Dream ist dies auch dem Gros der Krautrocker bis in die Gegenwart gelungen. Im Stil einer dezidiert musikhistorischen, visuell wenig rauschhaften Oral History spüren die beiden gänzlich unkritischen Filmemacher noch einmal dem politisch-ästhetischen Ursprungsgeist jener Jahre nach, als junge Bands wie NEU! und La Düsseldorf plötzlich Strahlkraft bis nach Japan oder in die USA besaßen.

Dementsprechend anekdotenreich und nur selten allzu selbstgefällig (wie etwa beim EX-Kraftwerker Wolfgang Flür) sorgt Krautrock 1 für eine Art von Neo-Fluxus-Feeling anno 2020: Wie lässig-nonchalant, gar radikal-progressiv ging es doch einmal zu in der BRD, was angesichts des gegenwärtigen Einheitsbreis in den Charts umso deutlicher auffällt. Krautrock stand sinnbildlich wie kompositorisch für eine totale Rekalibrierung in punkto Jugendkultur und Musikszene. Davon erzählt Krautrock 1 zwar keineswegs neu und filmisch nirgendwo innovativ, aber in seinem spröden Duktus durchaus unterhaltsam und aufrichtig. Denn Klaus Dinger (Kraftwerk, NEU!, La Düsseldorf), Conny Plank oder Malcolm Mooney (Can) hat man bisher nur selten im O-Ton gehört, was sich zumindest für Eingeweihte absolut lohnt, auch wenn juristische Fehden (z.B. zwischen Plank und Kraftwerk oder zwischen Dinger und Michael Rother) leider völlig ausgeklammert werden.

Krautrock 1 (2019)

In den späten 1960ern und frühen 1970ern entstand in Deutschland eine ganz eigene Musikrichtung, die heute als Bindeglied zwischen Psychedelic und Progressive Rock gilt und die sich im Nachhinein als enorm einflussreich erwies. „Krautrock 1“ zeichnet diese Entwicklung nach.

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