Mord im Orient Express (2017)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Opulentes Kammerspiel auf Schienen

Vier Jahrzehnte nach Sidney Lumets Adaption bringt Kenneth Branagh Agatha Christies Mord im Orientexpress erneut ins Kino. Die Hauptrolle des belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot übernimmt der Regisseur in seinem starbesetzten Kriminalfilm gleich selbst.

Kenneth Branagh kennt sich aus mit großen Starensembles und noch größerer Literatur. Mit 23 Jahren trat der 1960 geborene Brite der Royal Shakespeare Company bei. Sechs Jahre später brachte ihm die Leinwandversion von Shakespeares Heinrich V. zwei Oscarnominierungen ein. Unter seiner eigenen Regie und an seiner Seite spielten solch begnadete Mimen wie Emma Thompson, Denzel Washington, Robert De Niro oder Helena Bonham Carter. Neben zahlreichen Werken des bedeutenden Dramatikers aus Stratford-upon-Avon hat Branagh bereits Schauerliteratur, Comics, Märchen, Politthriller und Opern verfilmt. Auch mit Krimis kennt er sich aus, spielte er doch zwischen 2008 und 2015 Henning Mankells Kommissar Wallander im Fernsehen. Im Grunde also perfekte Voraussetzungen für eine ausgezeichnete Agatha-Christie-Verfilmung, zumal Branagh wie dereinst Lumet ein hervorragendes Ensemble für sein eisiges Kammerspiel zur Verfügung steht. Los geht es aber erst einmal in der Sonne.

Hercule Poirot (Kenneth Branagh) ist unzufrieden. So luxuriös sein Hotel in Jerusalem auch sein mag, perfekt symmetrische Frühstückseier bekommt die Küche nicht hin. Für den stets auf Ausgeglichenheit bedachten Meisterdetektiv ein allmorgendliches Drama. Da kommt etwas Abwechslung gerade gelegen. Mit ebenso viel Scharfsinn wie Weitsicht löst der Ermittler noch schnell einen Fall an der Klagemauer, bevor er sich flugs nach Istanbul einschifft. Von dort will er mit dem Orientexpress nach London, um ein paar freie Tage zu genießen. Sein alter Freund Bouc (Tom Bateman), seines Zeichens Zugdirektor, verschafft Poirot den letzten freien Platz. Doch die Arbeit holt die Spürnase mit dem voluminösen Schnauzbart schneller ein, als ihr lieb ist. Nach einem unfreiwilligen Zwischenstopp in den winterlichen jugoslawischen Bergen liegt der schmierige Kunsthändler Edward Ratchett (Johnny Depp) erstochen in seinem Abteil. Die Schar der 13 Verdächtigen ist illuster. Ratchetts Angestellte (Josh Gad, Derek Jacobi) zählen ebenso dazu wie eine Prinzessin (Judi Dench) und ihre Zofe (Olivia Colman), eine Missionarin (Penélope Cruz), ein Professor (Willem Dafoe), ein Arzt (Leslie Odom jr.), eine Gouvernante (Daisy Ridley), ein Autohändler (Manuel Garcia-Rulfo), eine Witwe (Michelle Pfeiffer), ein Grafenpaar (Sergei Polunin, Lucy Boynton) und der Schaffner des Waggons (Marwan Kenzari). Während die Lok tief im Schnee feststeckt, nehmen die Ermittlungen ihren Lauf.

Anders als die ersten Trailer noch vermuten ließen, setzt Kenneth Branagh dieses Whodunit ganz klassisch, ja geradezu altmodisch um. Manchmal sieht das aus wie Theater, wenn er den Fund der Leiche als Mauerschau aus der Vogelperspektive inszeniert oder die Verdächtigen am Eingang eines Eisenbahntunnels wie in Leonardo da Vincis Abendmahl drapiert. Meist sind die langen, ungeschnittenen Kamerafahrten im 70mm-Format aber einfach nur atemberaubend. Von der hohen, auf den Rhythmus der Treibstangen abgestimmten Schnittfrequenz der Werbeteaser ist im fertigen Film ebenso wenig zu finden wie vom poppigen Soundtrack oder dem an Nicolas Winding Refn erinnernden Neonblau der Schriftzüge. Einzig die computergenerierten Panoramen längst vergangener Stadtbilder und Landschaften und der dezent eingesetzte Dolby-Atmos-Sound verorten Branaghs Krimi im Hier und Jetzt. Was die Opulenz der Kostüme, Ausstattung und Farben angeht, könnte Mord im Orient Express ganz lässig einem anderen Jahrzehnt entstiegen sein.

Die brillante Optik verstellt allerdings nicht den Blick auf die großen Schwächen dieses Krimis: seinen Grundton und seine Dramaturgie. Drehbuchautor Michael Green (Logan – The Wolverine, Blade Runner 2049) bleibt nah an der Vorlage, führt lediglich zwei Figuren in einer Rolle zusammen und ändert einige der Ethnien und Herkunftsländer. Die Konflikte, die im Europa der 1930er-Jahre damit einhergehen, weisen auch immer in unsere Gegenwart. Als charismatischer, leicht ironischer Pedant eingeführt, legt der Ermittler wider Willen seine spitzfindige Komik recht abrupt ab. Der heiter-süffisante Ton, der im sonnigen Orient gesetzt wurde und an die Poirot-Filme mit Peter Ustinov erinnert, weicht im schneeverwehten Okzident dem heiligen Ernst. So moralinsauer und bedeutungsschwanger war der belgische Meisterdetektiv noch nie. Ob es mit der Schwere des verhandelten Kriminalfalls oder doch mit der politisch aufgeheizten Entstehungszeit des Films zu tun hat? Zumindest bleibt im Ohr, wie häufig darin das Wort „Rasse“ fällt. Doch auch als trockenes Lehrstück oder als klassischer Krimi funktioniert Mord im Orient Express nur bedingt. Viele der Schlüsse, die Poirot im letzten Drittel des Films zieht, sind nur noch schwer nachzuvollziehen und lassen die Zuschauer auf der Strecke. Wer die Geschichte noch nicht kennt, verliert spätestens hier das Interesse an ihrer Aufklärung. Immerhin stirbt die Spannung hier in Schönheit.
 

Mord im Orient Express (2017)

Vier Jahrzehnte nach Sidney Lumets Adaption bringt Kenneth Branagh Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ erneut ins Kino. Die Hauptrolle des belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot übernimmt der Regisseur in seinem starbesetzten Kriminalfilm gleich selbst.

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Meinungen

Mario · 07.02.2022

Wir sind und werden wohl Fans der alten Versionen beiben.
Die neue Version ist im ersten Augenblick für uns und sicher für die heutige Jugend schick anzusehen, doch wieder einmal wird mit Spezaileffekten ordentlich übertrieben. Dazu übermäßig gestylte Stars, die nicht so recht in die Zeit passen.
Die Story wurde 1 zu 1 übernommen. Da kann nicht viel falsch gehen.

Die ersten Bilder vom neuen "Tod auf dem Nil" ließen bereits erahnen, dass die Bilder die gleichen sein werden wie hier. Schick durchgestylte Schauspieler, die nicht so recht passen.

Rainer Weinbach · 13.12.2017

No, no, no......2 perfekte Eier oder doch eher das Ungleichgewicht.
Was macht ihm wohl mehr zu schaffen ? Sein Verlangen nach Ruhe, seine mon cher Katharine, sein gestörter Schlaf ?
Mit höchstwahrscheinlicher Sicherheit "Ein Mann, der das böse Schicksal nicht nur hauchweise auf seinen Schultern trägt"
Starbesetzung, Lichtspiele, Schnee, und weniger Blut als jemand befürchten kann. Gekonnte Balance zwischen nötigem Humor und dem Gift tiefer Trauer. Wer es nicht gesehen hat, darf auf die mehrsprachigen DVD´s hoffen. Wann genau dies stattfinden wird, ist ein Rätsel, welches hoffentlich sehr bald gelöst sein wird.

Wer von den Lesern meines Artikel kennt die Lösung?

Sascha · 14.11.2017

sehr bildgewaltig, schön "old-school"
Kenneth Branagh übertreibt es meiner Meinung nach ein wenig, sich in Szene zu setzen. Von daher gebe ich doch der ´74iger Version mit A. Finney einen kleinen Vorzug.