The Killing of a Sacred Deer (2017)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Eine Operation am offenen Herzen des Horrorkinos

Es beginnt mit einem schlagenden Herzen. Nicht im romantisch-metaphorischen Sinne, sondern wortwörtlich. Tatsächlich. Ein Herz, schlagend. Man sieht es von oben, durch den geöffneten Brustkorb. Genau so sind auch Yorgos Lanthimos’ Filme über Menschen. Nicht romantisch-metaphorisch, sondern heruntergebrochen auf das Essentielle, ohne Beteiligung von Emotionen oder Interpretationen. Und The Killing of a Sacred Deer ist klinisch präzise Beobachtung menschlicher Zustände auf ganz neue Höhen.

Die Hände, die man direkt nach dem offenen Herzen sieht, streifen Handschuhe von sich. Sie gehören einem Mann namens Stephen (Colin Farrell), dessen Charakter folgendermaßen von Lanthimos gezeichnet wird: männlich, Herzchirurg, Bart, mag Uhren, hat eine Frau (Nicole Kidman), ein Haus und die obligatorischen zwei Kinder. Und zwei Geheimnisse, die eigentlich keine sind. Erstens: Bis vor kurzem hatte er ein Alkoholproblem, das er jetzt unter Kontrolle hat. Zweitens: Er hat einen sehr eigenartigen Freund namens Martin (Barry Keoghan). Martin ist sechzehn und hat seinen Vater verloren. Auf Stephens Operationstisch. Die beiden pflegen eine ungewöhnliche Beziehung. Stephen trifft sich mit ihm im Diner, er schenkt ihm eine Uhr, er lädt ihn zu sich nach Hause ein. Als dies geschieht mechanisch, sowohl in der Bewegung der Figuren als auch auf Dialogebene. Lanthimos’ Gesprächsführung seiner ersten griechischen Filme ist in voller Stärke zurück und wabert auch hier zwischen Roboterhaftigkeit und subtilen Untertönen, die die Figuren zwar als grundsätzlich menschlich verorten und ihnen doch alles nehmen, was nicht zum reinen Informationsaustausch gehört. Seine Figuren sind fleischgewordene Semiotik. So ist es wohl, auf Androiden zu treffen.

Doch in Lanthimos’ Welt sind alle Menschen so, verrichten sie so ihr Tagwerk, ihre Beziehungen, ja sogar ihren Sex. „Allgemeine Anästhesie“, sagt Stephen und schon legt sich seine Frau Anna auf das Ehebett und bewegt sich nicht mehr. Und er hat Sex mit ihr, als wäre sie ein Sexroboter. Und als schwebte nicht schon von der ersten Sekunde ein unendliches Unbehagen in dieser Welt mit diesen Menschen, so geschieht plötzlich etwas Seltsames. Stephens kleiner Sohn ist auf einmal gelähmt. Und Martin erklärt dem verzweifelten Vater, dass dies Gerechtigkeit ist, denn er hat seinen Vater auf dem Gewissen und nun muss jemand aus seiner Familie sterben. Als Ausgleich. Stephen kann entscheiden wer, indem er die Person tötet. Ansonsten sterben alle: Frau, Sohn und Tochter. Erst werden sie gelähmt, dann hören sie auf zu essen, dann bluten ihre Augen, dann sind sie tot. Stephen glaubt ihm nicht, doch dann befällt die Lähmung auch die Tochter. Seine Frau Anna weiht er ein. Sie überlegen, was sie tun sollen. Ganz pragmatisch natürlich.

Mit The Killing of a Sacred Deer kehrt Lanthimos wieder stark zu seinen Wurzeln zurück, nachdem The Lobster ein eher leichter und mainstreamiger Versuch war, seine Visionen mit dem amerikanischen Geschmack zu vereinen, denn in den USA hat der Grieche seinen neuen Schaffensort gefunden. Hier nun widmet er sich aber dem Thriller oder besser dem Psychohorror, einem Genre, das sich zur Vereinigung viel besser eignet. Das Ergebnis ist irgendwo zwischen Hanekes intellektueller Brutalität, John Carpenters Horrorkino, Stanley Kubricks emotionaler Welt aus The Shining und Roy Anderssons absurdem Humor. Dabei arbeitet Lanthimos ausschließlich mit extremen Reduktionen. Weder spricht Stephen wie ein ganzer Mensch noch handelt er so. Seine Figur ist kein Mann, kein Vater, kein Chirurg, sondern einzig die radikal reduzierte Idee eines solchen. Anna ist keine Frau, keine Mutter, keine Ärztin, sondern nur die Idee davon. Gleiches gilt für die Kinder, die Orte, die Beziehungen. Als hätte eine künstliche Intelligenz die Parameter der menschlichen Gesellschaft eingepflegt bekommen und solle jetzt eine Geschichte aus diesem Code ersinnen. Das Ergebnis ist so beunruhigend, weil jegliche Emotionalität, Ambivalenz etc. fehlt. Und es ist so gruselig, weil es trotzdem mit einer beängstigenden Präzision ins Herz der modernen Gesellschaft trifft, ein Herz, das präzise schlägt, aber nicht fühlt.

Doch es ist nicht nur das Grauen, das der Regisseur hier perfekt hervorruft. Es ist auch immer ein absurdes Moment dabei, ein Gefühl, sich in einer surrealistischen Welt zu bewegen, die so angenehm unangenehm ist, dass man leidet, aber nicht wegschauen kann und will.

Lanthimos’ Radikalität ist nicht neu, allerdings verfeinert sie sich hier doch deutlich. Auch die neuen Produktionsbedingungen – vor The Lobster arbeitete er immer ohne Finanzierung oder Filmindustrie – tragen ihren Teil dazu bei. Vor allem die präzise Kamera, die stets in aller Schärfe die Bilder einfängt, gibt der Ästhetik und der Atmosphäre viel hinzu. Oft zeichnet sie das Geschehen aus einem leicht ungewohnten Winkel auf, eine Devianz, die gar nicht stark zu bemerken ist, denn ansonsten scheint das Bild recht „normal“. Doch wenn Stephen durch die kafkaesken Flure der Klinik läuft und die Kamera dabei hinter ihm, aber über ihm und nicht auf Augenhöhe schwebt, so ist auch hier die Entrückung, die Lücke zum Gewohnten stark zu sehen. Dazu tragen auch die wunderbaren Performances von Colin Farrell und vor allem Nicole Kidman bei. Dies ist ihre beste, entrückteste Arbeit seit Kubricks Eyes Wide Shut, man merkt, sie hat ein Händchen für diese Art von Rollen, die ihr viel zu selten angeboten werden.
 

The Killing of a Sacred Deer (2017)

Es beginnt mit einem schlagenden Herzen. Nicht im romantisch-metaphorischen Sinne, sondern wortwörtlich. Tatsächlich. Ein Herz, schlagend. Man sieht es von oben, durch den geöffneten Brustkorb. Genau so sind auch Yorgos Lanthimos’ Filme über Menschen. Nicht romantisch-metaphorisch, sondern heruntergebrochen auf das Essentielle, ohne Beteiligung von Emotionen oder Interpretationen.

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