Mein wunderbares West-Berlin (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

„Raus aus den Klappen, rein in die Straße!“, lautete ein viel zitierter Satz aus Rosa von Praunheims einstigem Skandalon Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von 1971, einem offen gesellschaftspolitisch engagierten Film, der auch in der Schwulen-Szene im Zuge der Erstaufführung außerordentlich kontrovers aufgenommen worden war. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass der Name des ursprünglich in Riga geborenen und späteren Chronisten der deutschsprachigen Gay-Culture auf einen Schlag auch in Hetero-Medien auftauchte.

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Rosa von Praunheim ist nur einer der zahlreichen, sicherlich zu erwartenden, jedoch auch wirklich sorgsam ausgewählten Protagonisten in Jochen Hicks ausgesprochen munterer, mitunter sehr persönlicher Film-Chronik zur West-Berliner Schwulenbewegung Mein wunderbares West-Berlin. Uraufgeführt in der Panorama-Sektion entwickelte sich dieser sehr gut recherchierte und mit gleichsam rarem wie unterhaltsamen Archiv-Material gespickte Dokumentarfilm während der diesjährigen Berlinale rasch zu einem Publikumshit mit bleibendem Mehrwert.

Zum ersten Mal werden in einem locker kulturwissenschaftlich aufbereiteten, dazu mit allerhand persönlichen Anekdötchen (z.B. von Udo Walz oder René Koch) gewürzten Dokumentarfilm beispielsweise auch die herben Grabenkämpfe (Egmont Fassbinder: „Du dusslige, alte Schnecke!“) zwischen den einzelnen schwulen Subszenen seit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren auf der Leinwand erlebbar, wo schon damals innerhalb der Gay-Community beileibe nicht alles „Friede, Freude, Eierkuchen“ war, wie das erste Love-Parade-Motto 1989 selbstironisch hieß.

Bis dahin geht Jochen Hicks Kulturreise nämlich, was auch der Grund dafür ist, dass beispielsweise ein Hetero wie Westbam im fertigen Film vorkommt, der völlig zurecht auf den großen Einfluss vieler männlicher Homosexueller auf die bis heute legendäre Nightlife- und Tanzkultur-Szene der nunmehr wiedervereinigten Hauptstadt hinweist. Schließlich hatte der später weltberühmte Techno-Pionier, „Low Spirit“-Labelgründer und Rave-Veranstalter einst als Resident-DJ im brodelnden Metropol am historisch besonders queeren Nollendorfplatz begonnen, wo gerne mal die ersten Leather-Boys West-Berlins auf dem brechend vollen Dancefloor öffentlich miteinander poppten.

Während sich etwa die einen lange Zeit – angesichts des berüchtigten Paragraphen 175 StGB, der erst 1994 (!), also vier Jahre nach der politischen Wende von 1989, endgültig aufgehoben worden war – in der geteilten Stadt nicht selten ganz realpolitisch um Leib und Leben sorgten (Salomé: „Ich kann mich an einige Situationen erinnern, in denen wir wirklich aus der U-Bahn rausspringen mussten, um nicht eine aufs Maul zu bekommen“) , forderten andere bereits die „schwule Revolution an der Seite der Arbeiterklasse“ (wie Wolfgang Theis), was für heutige Ohren durchaus befremdlich klingen mag.

Wieder andere suchten ihr persönliches Glück ganz im Privaten (z.B. der Damenmode-Couturier Klaus Schumann) oder hatten nur selten den Mumm, sich öffentlich zu outen, weshalb auch des Öfteren Stricher neben braven Familienvätern in den gut 50 Klappen der ummauerten Insel-Stadt gesichtet wurden, wie manche Zeitzeugen in Jochen Hicks Mein wunderbares West-Berlin durchaus mit einem Augenzwinkern berichten, ehe der Ausbruch von HIV und AIDS die zunehmend hedonistischer und liberaler gewordene Stimmung Anfang der 1980er Jahre mit einem Schlag von Grund auf veränderte. Zu viele mussten leidvoll mitansehen, wie ihre Liebsten – weitgehend abgeschottet von deren ursprünglichen Familien – grausam wie die Fliegen wegstarben. In Zeiten, als die katholische Kirche besonders strikt auf ihr Kondomverbot bestand, schwules (Zusammen-)Leben per se verurteilte und die CSU offen die Isolation und spätere Ausweisung der Kranken einforderte, was einem heute noch die Zehennägel hochzieht.

Es liegt insgesamt ein weiteres Mal am guten Gespür des Szene-Spezialisten Jochen Hick (Out in Ost-Berlin – Lesben und Schwule in der DDR / Der Ost-Komplex), dass aus Mein wunderbares West-Berlin keine allzu trockene Geschichtsstunde und erst recht kein nostalgischer „Ach was waren das doch für aufregende Zeiten“-Film geworden ist. Vielmehr tragen ein flottes Timing (Schnitt: Thomas Keller) wie eine kluge Auswahl zum Teil auch bewusst frotzelnder O-Töne (z.B. im Falle von Romy Haag und Udo Walz) entschieden dazu bei, dass man sich schlichtweg angenehm mittreiben lässt.

Einen weiteren Pluspunkt bilden zudem viele großartige Schnipsel aus allerlei Privat-Archiven (u.a. vom Porno-Dreh in Wieland Specks legendärer Männer-WG oder einige Ausschnitte aus ziemlich rabiaten Diskussionsmarathons mit Egmont Fassbinder als Wortführer). Hier wird sie noch mal ganz lebendig: die irre-wirre „Insel-Welt“ West-Berlins.
 

Mein wunderbares West-Berlin (2017)

Im West-Berlin der 1960er-Jahre gab es Lokale, in denen Männer unter sich sein konnten, und es wurde zum Magneten für junge Schwule. Heute noch aktive Protagonisten von damals lassen Erinnerungen an ihre ersten Jahre in der Stadt aufleben. Jochen Hick erkundet die queere Lebenssituation im damaligen Westteil der Stadt und die Wurzeln jener Faszination, die die Metropole bis heute zum Zufluchtsort nicht nur für schwule Männer macht.

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