Das Land der Heiligen

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Es gibt sie kaum, die Mafia-Geschichten aus Frauensicht. In der Regel beschränkt sich die Funktion der Frauen in Mafia-Erzählungen auf die Hure-Heilige-Dichotomie, sie sind entweder Prostituierte und/oder Geliebte oder Mütter und /oder Ehefrauen. Das war schon in Der Pate so, das ist auch in Suburra oder dem hierzulande leider weitgehend unbeachteten Anime Nere so. In dem viel beschworenen La-Familia-Mythos der Mafia bieten Prostituierte/Geliebte Abwechslung und bleibt die Ehefrau ganz der häuslichen Sphäre verhaftet, sie ist ihren Ehemann treu ergeben, gebärt ihm Kinder, kümmert sich um das Haus – und im Falle einer notwendig gewordenen Flucht des kriminellen Gatten auch um die Finanzen und verbrecherischen Aktivitäten, die in seiner Abwesenheit weiterlaufen müssen. Das Land der Heiligen ändert an dieser Rollenverteilung zunächst nur wenig, einzig eine Richterin erweitert das weibliche Rollenrepertoire. Jedoch kommt es in diesem Film auf die Perspektive an: Regisseur und Drehbuchautor (mit Monica Zapelli) Fernando Muraca erzählt, was das Leben innerhalb und mit der Mafia für Frauen wirklich bedeutet.
Das Land der Heiligen konzentriert sich auf drei Frauenfiguren: die Richterin Vittoria (Valeria Solarino), die ihre Angst ignoriert und gegen die ’Ndrangheta vorgehen will, Caterina Raso (Lorenza Indovina), die mit dem untergetauchten ’Ndrangheta-Oberhaupt Alfredo (Tommaso Ragno) verheiratet ist, und ihre Schwester Assunta (Daniela Marra), die drei Jahre nach dem Tod ihres ersten Ehemanns nun ein zweites Mal heiraten muss. Gekonnt werden nun Einblicke in die Struktur der ’Ndrangheta mit den persönlichen Konflikten verbunden. Caterina hat sich vollends in die Rolle gefügt, die von ihr verlangt wird. Sie ist eine überaus treue Ehefrau, obwohl für sie die Ehe arrangiert wurde, sie sieht ihren Sohn Pasquale (Marco Aiello) als Nachfolger ihres Mannes, der von allen gefürchtet wird. Diese beiden Männer kommen für sie fraglos an erster Stelle, sie sichern auch ihr Ansehen und eine machtvolle Position innerhalb dieser Gemeinschaft, die sie mit allen Mitteln verteidigt. Ihre jüngere Schwester Assunta hat bereits einen Ehemann in dem Bandenkrieg verloren und sieht nun wenig begeistert mit an, wie ihr ältester Sohn Guiseppe (Piere Calabrese) denselben Weg einschlägt. Alfredo hält ihn für talentiert, er soll vorerst dessen eigenen Sohn beschützen, könnte aber später selbst der Boss werden. Assunta wird hingegen gegen ihren Willen mit dem Bruder ihres verstorbenen Mannes verheiratet. Denn Alfredo will es so. Als dann ihr Neu-Ehemann Nando (Francesco Colella) verhaftet wird, wittert Vittoria eine Chance. Ihr wird immer vorgeworfen, sie sei eine Außenstehende, sie wisse nicht, wie es in dem „Land der Heiligen“, in Kalabrien, läuft. Sie nutzt nun diese Distanz, um das Schweigen der Frauen innerhalb dieses patriarchalen Systems zu brechen. Denn ihr Schweigen trägt dazu bei, dass Verbrechen nicht aufgeklärt und geahndet werden, es trägt dazu bei, dass ihre Kinder denselben Weg wie die Eltern einschlagen. Jedoch ist in der ’Ndrangheta das Schweigen oberstes Prinzip, neue Mitglieder legen in einer religiösen Zeremonie einen Schwur ab, der der Organisation den allerhöchsten Rang in punkto Loyalität und Treue zuspricht. Sie ist noch wichtiger als die Familie.

In Das Land der Heiligen sind die Kinder der Schlüssel: Wenn sie nicht mit Hass und Rache aufwachsen, wenn sie den traditionellen Erwartungen und Rollen entzogen werden, könnte man dieser Organisation den Nährboden entziehen. Und hierfür sieht Regisseur Fernando Muraca auch laut eines Regie-Statements insbesondere die Frauen und Mütter in der Verantwortung. Jedoch ist die filmische Umsetzung weitaus differenzierter als es diese Aussage vermuten lässt. Assunta ist eine von Daniela Marra grandios gespielte Frau, die von der Familie und den Traditionen von einem eigenen Leben abgehalten wird. Sie hat das erste Mal früh geheiratet, ist nun Mitte dreißig, während ihr ältester Sohn bereits das alter von 17 Jahren erreicht hat. Es ist jedoch gerade nicht das Muttersein, das sie an die Familie bindet, sondern ihre ältere Schwester, die von ihr die Loyalität und Selbstaufgabe fordert, die sie selbst gezeigt hat. Assunta fügt sich trotz allem Widerspruch und Temperament – nicht weil sie nicht anders kann, sondern weil sie weiß, was ihr bei Widerstand droht. Denn diese Frauen sind nicht nur finanziell von den Männern abhängig, sie wissen, dass sie eine Aussage gegen die ’Ndrangheta nicht überleben werden. Assunta ist eine ebenso intelligente Frau wie die Richterin Vittoria – und damit stehen sich zwei interessante Charaktere gegenüber, die sich durchaus ähnlich sind. Allerdings hatte und hat Vittoria einen entscheidenden Vorteil hat: Sie kann Kalabrien verlassen und zurück in den Norden gehen. Assunta nicht.

Das Land der Heiligen erlaubt einen interessanten und neuen Blick auf die ’Ndrangheta und patriarchale Gesellschaft in Kalabrien, indem er nicht die übliche männliche Perspektive wählt und sich statt auf Action deutlicher noch als Anime Nere von Francesco Munzi auf die soziologisch-gesellschaftlichen Auswirkungen des Lebens mit organisiertem Verbrechen konzentriert. Deshalb ist dieser Film ein sehenswertes Sozialdrama.

Das Land der Heiligen

Caterina ist die Ehefrau des untergetauchten ‚Ndrangheta-Bosses Alfredo und hat ihren Sohn Pasquale für eine Zukunft an der Spitze des Clans erzogen. Ihre jüngere Schwester Assunta hat im Bandenkrieg bereits ihren Mann verloren und sieht ihren Sohn Giuseppe denselben Weg einschlagen. In diese geschlossene Gesellschaft bricht Vittoria ein, eine Staatsanwältin aus Norditalien. Vittoria hat ein Ziel: das Schweigen der Frauen innerhalb dieses patriarchalen Systems zu brechen, das die Grundlage der einflussreichsten kriminellen Vereinigung der Welt bildet. Als Nando, Assuntas neuer Ehemann, verhaftet wird, wittert Vittoria ihre Chance.
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