Das Piano (1993)

Eine Befreiungsgeschichte

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

"The voice you hear is not my speaking voice, but my mind's voice", heißt es zu Beginn von "Das Piano". Und so ist schon nach wenigen Sekunden klar, dass dies ein sehr intimer Film wird, der uns in den Geist seiner Protagonistin einlädt. Für das sensibel erzählte Drama erhielt die neuseeländische Filmemacherin Jane Campion im Jahre 1993 als erste Frau (!) die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Zudem wurde sie für ihre Regieleistung für den Oscar nominiert und gewann die Trophäe für ihr Drehbuch, ebenso wie die Darstellerinnen Holly Hunter und Anna Paquin ausgezeichnet wurden.

Die Handlung von Das Piano ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Die verwitwete Ada (Hunter), die seit ihrem sechsten Lebensjahr kein Wort mehr gesprochen hat, wurde von ihrem Vater mit dem ihr unbekannten, in Neuseeland lebenden Briten Alistair Stewart (Sam Neill) verheiratet. Mit ihrer neunjährigen Tochter Flora (Paquin) begibt sich Ada deshalb auf die Reise von Schottland nach Neuseeland. Zutiefst betrübt ist die leidenschaftliche Klavierspielerin, als ihr neuer Gatte ihr geliebtes Piano – das sperrigste, aber auch wertvollste all ihrer Gepäckstücke – achtlos am Strand zurücklässt.

Während Alistair lange Zeit nicht begreifen kann, welche Bedeutung das Piano für Ada hat, ist dies für den Außenseiter George Baines (Harvey Keitel) sofort ersichtlich. Er erwirbt das Instrument und bittet die aufgebrachte Ada um Klavierunterricht. Mit diesem könne sie das Piano Taste für Taste zurückerlangen. Die beiden gehen einen Handel ein, der rasch auch eine körperliche Annäherung beinhaltet und bald in eine leidenschaftliche Affäre mündet.

So vieles an Das Piano ist schlicht und ergreifend grandios. Da ist zunächst einmal die originelle Art, wie Campion und ihr Kameramann Stuart Dryburgh den Zusammenprall von wilder Natur und bemühter Kultiviertheit visuell spürbar machen, in zuweilen surreal anmutenden Bildern, die in ihrer Symbolik dennoch nie überfrachtet wirken. Wie Ada anfangs mit ihrer kleinen Tochter in ihrer denkbar unpassenden Kleidung und ihren mitgeschleppten Möbeln am Strand ausgesetzt und dort mit der unwirtlichen Landschaft konfrontiert wird, ist gekonnt eingefangen. Das Piano ist weit davon entfernt, ein typischer Kostümfilm zu sein – und doch hat jedes Ausstattungsdetail etwas Spannendes mitzuteilen. Die Insignien der europäischen Kultur, die an diesen offensichtlich unbeherrschbaren Ort gebracht werden, treffen auf Regennässe, Schlamm und die schiere, gnadenlose Gewalt der Natur.

Die beiden Männerfiguren, wuchtig verkörpert von Sam Neill und Harvey Keitel, nehmen hierbei interessante gegenteilige Positionen ein. Der Siedler Alistair will die Natur unterwerfen, will die ihm bekannten traditionellen Vorstellungen eines englischen Lebensstils in der neuseeländischen Wildnis fortführen. George hingegen lebt in seiner Hütte im Einklang mit der Natur und den Maori, deren Sprache er beherrscht. Zu den Stärken des Films gehört, dass die Figuren trotz einer klaren Zuschreibung von Eigenschaften über erkennbare Ambivalenzen verfügen.

So wird Alistair nicht zu einem eindimensionalen Antagonisten, der aus purer Boshaftigkeit das aufkeimende Glück der Heldin zerstört; vielmehr ist er ein Mann, der in seinem Gesellschaftsbild gefangen ist – dem es aber dennoch gelingt, sich im Laufe der Geschehnisse weiterzuentwickeln. Und auch der roh und ruppig daherkommende George ist ein komplexer Charakter. Die Beziehung zwischen Ada und ihm beginnt als Machtspiel, bei dem er zunächst im Vorteil zu sein scheint. Mehr und mehr wird Ada in dem Verhältnis jedoch zu einer selbstbestimmten Person, die ihre eigene Lust, ihr eigenes Begehren entdeckt.

Holly Hunter spielt Ada so herrlich unbeugsam, dass keine Worte vonnöten sind, um die Energie dieser Figur zu vermitteln. Adas Glühen für die Musik, die ihr eine Stimme verleiht, verkörpert Hunter ebenso glaubhaft wie die unverhoffte Liebe, die sie für George zu empfinden beginnt. Dass neben den drei begnadet agierenden Schauspielgrößen Hunter, Keitel und Neill auch noch die Jüngste des starken Ensembles, Anna Paquin, eine so eindrückliche Leistung abzuliefern vermag, die bis heute zu den vielschichtigsten Darstellungen eines Kindes zählen dürfte, ist ein weiteres kleines Wunder dieses unfassbar schönen und subtilen modernen Klassikers der Kinohistorie.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-piano-1993