Anselm – Das Rauschen der Zeit (2023)

Begegnung zweier Magier

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Die Engel haben es Wim Wenders und Anselm Kiefer angetan: Überlebensgroß erheben sich zwei Flügel, eine Skulptur von Kiefer, aus der Landschaft, schwer wie ein Flugzeug und doch bereit zum Sprung in die Lüfte. Wer denkt da nicht an den Schauspieler Bruno Ganz, wie er in „Der Himmel über Berlin“ (1987) von Wim Wenders mit seinen Schwingen auf einem Sockel steht und sehnsüchtig hinabblickt auf die zerrissene Stadt?

Anselm Kiefer und Wim Wenders teilen die Leidenschaft für das Irdische, insbesondere die grauenvolle deutsche Geschichte, ebenso wie die für das Himmlische: die Magie der Kunst und der Kinematografie. Jetzt hat Wenders, der nur ein halbes Jahr Jüngere, einen Film über seinen Seelenverwandten Kiefer (78) gedreht – einen der wichtigsten zeitgenössischen Künstler Deutschlands. Es ist ein ebenso lyrisches wie monumental-episches Werk geworden, das sich fast allen Kategorien entzieht. Dokumentation? Porträt? Hommage? Essay? Von allem etwas und zusammengenommen ein Film, wie man ihn so noch nie gesehen hat.

Die 3D-Kamera von Franz Lustig hat Kinderaugen. Neugierig und staunend schwebt sie durch einen Märchenwald und nähert sich ehrfurchtsvoll einer Frau im weißen (Hochzeits?)Kleid, die da traumverloren steht. Der kindliche Blick lässt sich verführen, will mehr sehen, verzichtet auf Denken und Einordnen, verfällt ganz dem Zauber des Fantastischen. Die Frau – eine Skulptur – hat keinen Kopf, und sie ist nicht allein. Immer mehr weiße Kleider und immer unterschiedlichere Gebilde auf deren Schultern sind zu sehen, Bücherstapel, Planetenbahnen, wuchernde Äste. Weiter geht es zu Türmen und später zu Ateliers. Hier, im südfranzösischen Barjac, hat Anselm Kiefer ein mehr als 35 Hektar großes Gelände in einen Kunst-Park umgewandelt. Und es zeigt sich, wie gut das Räume erschließende 3D-Format, das mit Ausnahme von Avatar 2 fast schon wieder ausgestorben war, zur Raum-Kunst von Architektur und Skulptur passt. Schon in Wenders Pina (2011) war das Eintauchen in die dritte Dimension, in die choreografische Staffelung der Tänzerinnen und Tänzer atemberaubend. Im neuen Film entwickelt Wenders das Verfahren weiter und schmiegt es noch organischer an seinen Gegenstand an.

Außer ihren Biografien und künstlerischen Vorlieben haben Wim Wenders und Anselm Kiefer noch etwas anderes gemeinsam. Ihrer beider Künste sind alles andere als eingängig und es verbietet sich, ihnen durch viele Worte und Erklärungen beikommen zu wollen. Viel eher erschließen sie sich durch geduldiges Hinschauen, das Raum für Assoziationen, eigene Erinnerungen oder Tagträume lässt. Vielleicht wäre es unter formalen Aspekten konsequent gewesen, sich ganz auf den Dialog zwischen Kamera und Kiefers Kunstwelten zu verlassen. Aber dann wäre der Film inhaltlich ins Mystische, vielleicht sogar ins Unverständliche abgeglitten.

Und so tut der Regisseur gut daran, die wichtigsten Stationen der Künstlerbiografie in den Bilderfluss einzuschleusen: Wie der 18-jährige Anselm 1963 als Gymnasiast durch sein Zeichentalent auffiel und den Jean-Walter Preis dafür erhielt, dass er auf den Spuren Van Goghs nach Frankreich reiste und dort Skizzen anfertigte. Wie sich der junge Künstler zuerst im Odenwald niederließ, weil er die Natur und die Landschaft brauchte, um sie in seine großformatigen Bilder einfließen zu lassen. Wie er in dieser Zeit Kontakt zu Joseph Beuys aufnahm und mit seinem VW-Käfer des Öfteren nach Düsseldorf fuhr, mit eingerollten Arbeiten auf dem Autodach. Wie er in einer Kunstaktion den Hitlergruß zeigte, womit er den Zorn der Deutschen auf sich zog. Wie er in den USA als Künstlerstar gefeiert wurde, der mit Tabubrüchen auf die Verdrängungskultur seiner Heimat aufmerksam machte. Wie er Deutschland dann den Rücken kehrte und zuerst in Südfrankreich, später nahe Paris sein Werk fortsetzte, wieder in gigantischem Maßstab und in riesigen Ateliers.

Das Leichte und das Schwere sind bei Kiefer verschwistert wie das Sein und das Nichts. Eines ist nicht ohne das andere zu haben. Und so arbeitet er mit Materialien wie Asche und Stroh, malträtiert seine Leinwände mit Flammenwerfern und gießt Blei über sie. Zugleich streut er immer einen Hauch Ironie über die Auseinandersetzung mit den Trümmerlandschaften seiner Kindheit, der verbrannten Erde, der Blutspur der Geschichte. Die Realität ist bei ihm genauso bedeutsam wie die Dichtung (insbesondere die von Paul Celan und Ingeborg Bachmann).

Sie ist ihm gleichermaßen wichtig wie die Mythen und andere Erzählungen über die Entstehung der Welt. Wim Wenders nimmt diesen doppelten Faden kongenial auf. Auch er zeigt sich in seinen Filmen oft ernst und heiter zugleich, in einer ihm eigenen Mischung. Hier in Anselm – Das Rauschen der Zeit mischt er dokumentarisches Material mit Spielszenen, lässt Kiefer als Kind auftreten (verkörpert von Wenders‘ Großneffen Anton Wenders) und später als jungen Mann (gespielt von Kiefers Sohn Daniel Kiefer). Am schönsten aber imaginiert der Filmemacher Kiefers künstlerische Essenz, wenn er ihn hoch auf einem Drahtseil über Trümmerlandschaften balancieren lässt: eine der vielen Einladungen zum Sinnieren und Weiterspinnen in diesem überwältigenden Film.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/anselm-das-rauschen-der-zeit-2023