Eine Filmkritik von Joachim Kurz
Thüringen im Jahr 1990, kurz nach der Wiedervereinigung: Die 19 Jahre alte Maria (sensationell: Marlene Burow) lebt auf dem Anwesen der Familie ihres Freundes Johannes und soll eigentlich ihr Abitur machen, doch viel lieber schwänzt sie die Schule, versinkt in Romanen, hängt Tagträumen nach und lässt sich durch den Sommer treiben. Während ihr Freud Johannes (Cedric Eich) voller jugendlichem Enthusiasmus die, durch die politischen Veränderungen entstehenden, neuen Freiheiten begeistert annimmt und Zukunftspläne schmiedet, die ihn vom Land in die Stadt versetzen werden, ist Maria gehemmt und wie gelähmt von der Situation und unfähig, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Und es ist erst eine zufällige Begegnung, ein kurzer Moment, der sie aus ihrer Lethargie reißen wird.
Als sie vor Schock wie gelähmt vor dem benachbarten Landwirt Henner (Felix Kramer) steht, dessen Hunde sie gerade beinahe angefallen hätten, springt ein Funke über, der die beiden in eine leidenschaftliche heimliche Affäre miteinander treibt. Es ist so, als hätten sich zwei verlorene Seelen getroffen, die sich wie Ertrinkende an ihrer Liebe und Leidenschaft festhalten. Immer wieder droht das Verhältnis aufzufliegen, ein ums andere Mal steht Maria vor der Entscheidung, sich zu ihrer Liebe zu bekennen – doch jedes Mal schweigt sie oder jemand anderes, der sie aus diesem Dilemma erlösen könnte. Und so spitzt sich die Situation immer mehr zu, wird immer auswegloser, bis sich alles so sehr verdichtet, dass es zu einer Explosion kommen muss.
Bei allen Ähnlichkeiten aber ist Irgendwann werden wir uns alles erzählen auch in anderer Hinsicht ein ganz anderer Film geworden: Zunächst und vor allem ist er ein Film über weibliches Begehren, über die subversive Kraft, die der Liebe und der Leidenschaft (zumal der heimlichen und nicht akzeptierten) innewohnt. Darüber hinaus zeichnet der Film ein stimmiges Bild jener Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung, an die Hoffnungen, Ängste und ersten Enttäuschungen, die damit einhergehen, an die Euphorie mancher, das Ringen um Perspektive(n) anderer und das Resignieren weniger.
All dies kleidet Emily Atef in traumschöne Bilder (Kamera: Armin Dierolf) voller flirrender Sinnlichkeit, die das Publikum förmlich in den Film und in diesen Sommer des Jahres 1990 hineinziehen und die bisweilen an Terrence Malicks Frühwerk Days of Heaven / In der Glut des Südens erinnern. Einen wichtigen Anteil an dieser erzeugten Sogwirkung trägt dabei auch die Tonebene, die sensibel jedes Naturgeräusch genauestens registriert und hörbar macht. Im Gegensatz zu dieser Geräuschkulisse stehen das Schweigen und Dialogsätze, die immer wieder und durchaus passend zum Titel Aussprachen lediglich andeuten, dann aber nie stattfinden lassen. Die Wortlosigkeit, die sich immer wieder in Ankündigungen äußert, erzeugt hier freilich keine Leere, sondern vielmehr einen permanenten Spannungszustand, der locker über die 129 Minuten hinweg trägt und kaum je Längen oder Redundanzen hervorbringt.
Dank eines herausragenden Ensembles, eines exzellenten Drehbuchs, sensibler Regie- und Kameraarbeit ist Emily Atef mit ihrem neuen Film ein eindrückliches Werk gelungen, das nicht nur überzeugt, sondern zutiefst beeindruckt.
Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/irgendwann-werden-wir-uns-alles-erzaehlen-2023