Er flog voraus - Karl Schwanzer / Architektenpoem (2022)

In München steht ein hohes Haus  

Eine Filmkritik von Simon Hauck

„Qualität geht vor Verdienst.“ Karl Schwanzers Leitgedanke als österreichischer Architekt, Designer und Gestalter von Weltruf war in der Zweiten Republik nach 1945 absolut singulär. Ebenso verbissen wie detailversessen manövrierte er jedes seiner über visionären 400 Bauprojekte über zahlreiche technische, ideologische wie finanzielle Hürden, ehe er sich 1975 – und auf der Höhe seines Ruhms – überraschend das Leben nahm. 

Bereits in der Form- und Farbgebung strebte er stets nach dem bestmöglichen Ergebnis (»Architektur ist ja nichts Statisches, sondern wird erlebt“), wofür der joviale Architekturprofessor, der aus kleinen Verhältnissen stammte und gerne einen Wiener Gassenhauer auf den Lippen hatte, gegenüber seinen Bauherren nur ungern Kompromisse einging. Denn in seiner außergewöhnlichen Architektursprache setzte der seit 1947 tätige Blueprint der österreichischen Baukunstszene durchgängig auf ausgesprochen ungewöhnliche Muster und Bauformen, die vor allem in den Weltausstellungen von Brüssel (1958) oder Montreal (1967) für internationales Aufsehen sorgten. 

Derartig filigrane wie kurvenreiche, auf Zylinder und Kastenblöcke genauso wie auf konkave Funktionen oder futuristische Formen setzende Gebäudetypen stachen innerhalb der mausgrauen Nachkriegsmoderne Österreichs schlichtweg hervor. „Architekten besitzen ein Instrument, Menschen glücklich zu machen“, lautete Schwanzers Devise als wegweisender Architekt seiner Generation. Der Schöpfer des „Philips“- (1962-1964) und des „20-er Hauses“, der auch die Erweiterung der historischen „Kapuzinergruft“ in Wien oder die österreichische Botschaft in Brasilia verantwortet hatte, wurde parallel selbst zu einem Ausbilder und Mentor erster Güte. 

Davon erzählt in Max Grubers verspielt-kurzweiligem Dokumentarfilmporträt Er flog voraus – Karl Schwanzer / Architektenpoem etwa sein Ex-Student Wolf D. Prix („Coop Himmel(b)au“), der durch Schwanzers unkonventionelle Methodik und hohe Kunstaffinität selbst zu einem global tätigen Architekten-Exzentriker wurde, dessen Entwürfe ebenso häufig aufhorchen lassen, was im selben Maß auch für die Macher*innen hinter der Architekt*innenkollektiven „Zünd up“, „Salz der Erde“ oder „Missing Link“ gilt, deren Mitglieder beinahe allesamt bei Karl Schwanzer in die Lehre gingen. 

Gleichfalls spektakulär wie legendenumrankt ist heute immer noch die Hintergrundgeschichte zu Schwanzers baukünstlerischem Opus Magnum: Dem Neubau der zeitlos modernen BMW-Konzernzentrale (Hochhaus plus Museum und Parkhaus) im Münchner Norden, die als „Vierzylinder“ oder „Kleeblatt“ bereits während der ersten Bauphase jenes innovativen Prestigeprojektes in die Architekturgeschichtsbücher einging und bereits mehrfach als Drehort (z.B. für Dario Argentos Giallo-meets-Horror-Meilenstein Suspiria oder Norman Jewisons dystopischem Actionklassiker Rollerball) diente. 

Schwanzers schwer zu bändigende Spielfreude wie dessen ästhetisch-technisch ausgefuchste Virtuosität erreichte gerade in diesem schillernden Baukomplex ihren Zenit. Eine geheimnisvolle Tiefe und eine magische Leichtigkeit sowie eine visionäre Kraft und ein dezidiert avantgardistischer Gestaltungswille treffen hier kongenial aufeinander. Er war eben ein Kosmopolit, der vorwiegend im Flugzeug und außerhalb von Europa arbeitete, obwohl er gleichzeitig eine 100-köpfiges Team in Wien dirigierte. Und zugleich ein eigensinnig-sturer und gleichzeitig ausgesprochen zukunftsweisender Baukunsthandwerker, der sich weder von honorigen Bauherren noch von gegelten Vorstandsvorsitzenden globaler AGs aus dem Konzept bringen ließ, um am Ende seinen Masterplan durchzuboxen. 

Dafür ließ er schon einmal ein ganzes (!) Stockwerk seines ewig funkigen BMW-Komplexes vorab auf eigene (!) Kosten in den Bavaria-Filmstudios in Geiselgasteig als Modell nachbauen und mit schauspielernden Laien bestücken, um die feinen, damals jedoch noch wankelmütigen Herren aus der Führungsriege des Münchner Edel-Autobauers für sich und seinen radikalen Entwurf zu gewinnen, was zu den schönsten Episoden jener kraftvoll (Montage: Philipp Mayer) arrangierten und spritzig (Musik: Moritz Heidegger und Pit Kaufmann) untermalten Hommage zählt. 

Kein Zweifel: Dieses unvollendete Architekturgenie war seiner Zeit in vielen Belangen wahrlich weit voraus. Wie optisch aufregend die bayerische Landeshauptstadt heute wohl aussehen würde, wenn er für sie noch weitere Entwürfe geliefert hätte? Es ist Graus beim Blick auf die furchtbar biedere Gegenwartsarchitektur, die München nicht nur in seinen Neubaugebieten inzwischen zu bieten hat. Wo sind dagegen die Schwanzers von heute? 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/er-flog-voraus-karl-schwanzer-architektenpoem-2022