Arielle, die Meerjungfrau (2023)

Unter dem Bann der Vorlage

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Eine Afroamerikanerin in der Rolle der Meerjungfrau Arielle? „Geht gar nicht!“, so der Tenor zahlreicher Kommentator*innen im Netz, als bekannt wurde, dass die schwarze Sängerin Halle Bailey im Realfilmremake von Disneys Zeichentrickklassiker „Arielle, die Meerjungfrau“ die ursprünglich weiße Titelheldin spielen würde. Reflexartige Entrüstungswellen dieser Art ist man mittlerweile gewohnt. Verstörend wirken die Anfeindungen dennoch immer wieder. Warum sollte man in einer Auffrischung, die mehr als 30 Jahre nach dem Original entstanden ist, nicht einen neuen Ansatz wagen? Und überhaupt: Keineswegs haben wir es hier mit einem Drama über historische Ereignisse und Persönlichkeiten zu tun, sondern einer Geschichte aus einer Fantasy-Welt, in der bekanntlich alles möglich ist. Schon deshalb sind die vorab losgetretenen Diskussionen völlig absurd.

Ironischerweise entpuppt sich die Besetzung als die einzige große Änderung im Vergleich mit der Vorlage. Zu einer Generalüberholung setzen Regisseur Rob Marshall (Mary Poppins‘ Rückkehr) und seine kreativen Mitstreiter*innen mitnichten an. Vielmehr hangeln sie sich, von kleinen Akzentverschiebungen abgesehen, sehr eng am Trickstreifen von 1989 entlang, der seinerseits auf Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau basiert. Der Geist des Klassikers wird auf jeden Fall bewahrt. Was fehlt, ist eine aufregende eigene Vision, die sich angesichts der besonderen Casting-Entscheidung eigentlich aufdrängt.

Die von Halle Bailey mit einnehmender Warmherzigkeit verkörperte Arielle sehnt sich natürlich auch in der Neuverfilmung nach der Welt der Menschen, obwohl ihr Vater, Unterwasserkönig Triton (etwas verschenkt: Javier Bardem), ihr genau dies untersagt. Die Landbewohner*innen sind in seinen Augen gefährlich und verdorben. Immerhin haben sie Arielles Mutter auf dem Gewissen. Für die Meerjungfrau und ihre sechs Schwestern ist die Oberfläche tabu. Doch fast schon obsessiv zieht es Arielle ständig dorthin.

Als sie bei einem ihrer Ausflüge die Geburtstagsfeier des Prinzen Erik (Jonah Hauer-King) beobachtet, muss Arielle plötzlich sein Leben retten. Inmitten eines tosenden Sturms und eines ausbrechenden Feuers, die seinem Schiff heftig zusetzen, droht er zu ertrinken. Tief beeindruckt von der Begegnung, möchte die Königstochter Erik wiedersehen und lässt sich schließlich auf einen faustischen Pakt mit ihrer Tante Ursula (Melissa McCarthy) ein, die von Triton einst verbannt wurde und nur darauf lauert, ihm seine Macht zu entreißen. Im Tausch gegen Arielles wunderschöne Stimme will sie ihrer Nichte Beine schenken, damit sie Erik wirklich nahekommen kann.

So schön es auch ist, dass immer mehr Hollywood-Studios und Streaming-Dienste Diversität für sich entdecken – substanziell spiegelt sich die Vielfalt in den Erzählungen noch zu selten wider. Die Live-Action-Verfilmung aus dem Hause Disney bildet da keine Ausnahme. Am Ende stellt sich nämlich schon die Frage, was genau denn nun das Besondere an der neuen Arielle sein soll. Wahrscheinlich schmachtet sie ein bisschen weniger als ihr Pendant im Original. Ansonsten bleiben die Muster des Zeichentrickklassikers allerdings intakt. Motive und Handlungsaufbau sind sehr ähnlich. Ausreißer gibt es nur wenige.

Austauschbar fühlt sich zudem Eriks Biografie an. Nach einem Schiffbruch aufgegriffen, wuchs der weiße Junge in der Obhut der schwarzen Königin Selina (Noma Dumezweni) auf, die ihn immer wieder vor den Gefahren der Unterwasserwelt warnt. Die Backstory haucht der Figur des Prinzen kaum Leben ein, hat für den Plot keine Bedeutung, wirkt bloß wie ein Etikett. Offen zur Schau gestellte Diversität ohne Nachhall umweht auch die Schwestern Arielles. Besetzt mit Schauspielerinnen, die über unterschiedliche ethnische Hintergründe verfügen, versäumt es der Film, daraus irgendwelche interessanten Ideen abzuleiten. Die sechs jungen Frauen sind nicht viel mehr als schmückendes Beiwerk. Was ebenfalls auffällt: Manchmal kippt die mit viel Karibikflair aufgeladene, hippieske Sommer-Sonne-Strand-Heiterkeit auf Eriks Heimatinsel ins Klischeehaft-Exotistische und lässt an die Aufnahmen aus plakativen Werbespots denken.

Kritisch zu sehen gibt es also einiges. Marshall und Co. treffen allerdings auch richtige Entscheidungen. Melissa McCarthy als Antagonistin funktioniert prächtig, da die US-Schauspielerin die Boshaftigkeit ihrer Figur völlig umarmt. Ihre Leinwandpräsenz ist unbestreitbar und geht so weit, dass ganz kleine Zuschauer eingeschüchtert werden könnten. Erwartungsgemäß trumpft die aufwendige Disney-Produktion mit manch spektakulären Bildern auf, entwirft eine farbenfrohe Unterwasserwelt, die jedoch nicht an die Brillanz des Settings in Avatar: The Way of Water heranreicht. Unterhaltungswert hat ferner ein Großteil der Musical-Einlagen. Ins Auge sticht vor allem das aus dem Ursprungswerk stammende oscarprämierte Lied Unter dem Meer, das neben anderen bekannten Songs seinen Weg ins Remake gefunden hat. Aus dem Pool der neu geschriebenen Lieder ragt vor allem eine Rap-Nummer heraus, die Arielles treuer Begleiter, die Krabbe Sebastian (Originalstimme: Daveed Diggs), zusammen mit dem Vogel Scuttle (Originalstimme: Awkwafina) zum Besten gibt.

Egal, welche Stärke man auch betont. Zu einem unvergesslichen Kinoerlebnis avanciert Arielle, die Meerjungfrau nicht. Dafür hätte die Live-Action-Version des beliebten Trickfilms viel konsequenter neue Impulse setzen, neue Perspektiven einnehmen und neue Richtungen einschlagen müssen. Nach der Kölner Pressevorführung fühlte sich ein Journalist sogar an Gus Van Sants Eins-zu-Eins-Remake des Spannungsmeilensteins Psycho erinnert. Eine zweifellos übertriebene Einschätzung. Und doch ist sie irgendwie symptomatisch für einen Film, der eine spannende Casting-Entscheidung, nun ja, verwässert.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/arielle-die-meerjungfrau-2023