Orphan: First Kill (2022)

Zurück zum blutigen Anfang

Eine Filmkritik von Sarah Stutte

Als Orphan – Das Waisenkind 2009 in unseren Kinos über die Leinwände flimmerte, dachten alle Horrorfans, sie hätten im Evil Child-Genre schon alles gesehen, was es zu sehen gab. Sie wurden allesamt eines Besseren belehrt. Isabelle Fuhrmans Darbietung als Esther war damals wirklich eine der beunruhigendsten Performances, die man bis dato zu sehen und spüren bekommen hatte. Ein neunjähriges Mädchen lehrte uns das Fürchten.

Schon dieser Film trumpfte mit einer der erstaunlichsten und unerwartetsten Wendungen auf, die je in einem Horrorfilm gezeigt wurde. Und auch Orphan: First Kill steht in Sachen «nicht die Spur zu erahnendem Twist» seinem Vorläufer in nichts nach. Das Prequel spielt nur wenige Jahre vor den Ereignissen des ersten Films. Schon die ersten Minuten gehen ins Mark. Sie zeigen, wie die mörderische 31-jährige Frau, die eigentlich Leena Klammer heißt, einer jungen Kunsttherapeutin im Saarne Institute in Estland vormacht, ein unschuldiges Waisenkind zu sein.

Auf durchtrieben-deftige Art und Weise flieht sie alsbald aus der psychiatrischen Einrichtung und sucht in der Obhut einer amerikanischen Familie Schutz. Unter dem Vorwand, ihr vermisstes Kind namens Esther zu sein, schmuggelt sich die junge Frau in das wohlhabende Haus und beginnt, ihre Manipulationsfähigkeiten einzusetzen.

Von der Fortsetzung eines Horrorklassikers kann man normalerweise nicht zu viel erwarten. Vor allem selten dann, wenn der ursprüngliche Film ein echter Thrill-Ride war. Doch Orphan: First Kill wiederholt nicht einfach den Inhalt des ersten Teils, sondern vermag durchaus eigene Akzente zu setzen, indem die Sprossen für Esther, ihr Ziel zu erreichen, diesmal sogar noch etwas höher gelegt werden.

Damit widersetzt sich der neue Teil des Orphan-Universums auf erfrischende Weise den Konventionen von Horror-Fortsetzungen und wird von Regisseur William Brent Bell (The Devil Inside, The Boy) gekonnt inszeniert. Er schafft es, das überraschend knappe Drehbuch von David Coggeshall zum Leben zu erwecken. Einen Großteil der Freude am Film ist der melodramatischen Dynamik der Hauptdarsteller zu verdanken. Julia Stiles verleiht ihrer Rolle als misstrauisch-liebende Mutter eine mitreißende Theatralik und auch Matthew Finlan beeindruckt als verwöhntes, weil bisher geliebtes Einzelkind, der reichen Familie.

Doch wie schon beim Vorgänger wird auch dieser Film ganz und gar durch die furiose Leistung von Isabelle Fuhrman getragen, die wieder einmal mit einem trockenen Grinsen die herrlich böse Titelheldin spielt. Als der Originalfilm 2009 in die Kinos kam, war die Amerikanerin gerade einmal 12 Jahre alt. Bizarrerweise scheint es, als sei Fuhrman seitdem kaum einen Tag gealtert, indem hier einfach clevere Perspektiven, Kamerawinkel und eine stilvolle Beleuchtung eingesetzt werden.

In einer Welt, in der ein filmischer Alterungsprozess in der Regel mit Unmengen von CGI einhergeht, welche die Schauspieler wie unheimliche Playstation 2-Cameos aussehen lassen, ist es bemerkenswert zu sehen, dass hierfür fast ausschließlich innovative praktische Effekte zum Einsatz kommen. Zwar stolpert der Film einige Male über seine eigene Logik, aber im Großen und Ganzen ist Orphan: First Kill ein gelungenes spätes Prequel, das sich mit ein paar kreativen Schnörkeln an die Regeln des Genres hält.

Der schon angesprochene Twist haut einen dann aber dermaßen aus den Socken, dass man sogar die Fragezeichen vergisst, die sich dadurch auftun. Esther mag zwar erst zwei Filme hinter sich haben, aber sie entwickelt sich schnell zu einer der kuriosesten und reizvollsten Schurkinnen des zeitgenössischen Horrors. Her mit Orphan: Chapter 3!

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/orphan-first-kill-2022