Tausend Zeilen (2022)

There is no Schtonk!

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

In seinen Texten wurde die Welt nicht einfach bloß abgebildet und beschrieben. Nein, sie leuchtete, wurde lebendig und greifbar. Die Leser:Innen konnten sich mitten drin im Geschehen wähnen, so als würde einen der Thrill eines packenden Films im Kino ergreifen. Ob es sich nun um eine Reportage über eine militante amerikanische Bürgerwehr an der Grenze zu Mexiko handelte (Jaegers Grenze), oder um das Porträt eines syrischen Jungen, der mit einem Graffiti den syrischen Machthaber Assad beleidigt haben soll (Ein Kinderspiel)  – immer gab es diesen besonderen narrativen Sog, erzeugt von einer Spannungsdramaturgie, die jedoch größtenteils durch Erfindungen des Autors konstruiert wurde.

Der Journalismus des Class-Hendrik Relotius war ein Konstrukt aus Lügen, aber in seiner Strahlkraft derart verführerisch und in den Zeitgeist passend, dass er mit Preisen überhäuft wurde: Hinter den Schein wollte niemand blicken. Die Texte waren einfach gut. Sie boten etwas, dass man im Internet mit seinen Meldungen nicht finden konnte, etwas, das über die einfache Nachricht hinausging: emotionale Geschichten, die dem Autor offenbar am Herzen lagen.

Claas-Hendrik Relotius war der hochdekorierte Star am deutschen Journalistenhimmel. Dann folgte der Sturz, der Fall in die Tiefe und eine ganze Branche wurde von einem Erdbeben erschüttert. Die Causa Relotuis war der größten Skandale in der Geschichte des deutschen Journalismus seit den gefälschten Hitler-Tagebüchern 1983; jene Geschichte, die Helmut Dietl dann mit Schtonk satirisch fürs Kino aufgearbeitet. Tom Kummer, der in den 90ern Interviews mit Hollywood-Stars fälschte und damit zur Jahrtausendwende aufgeflogen war, ist dagegen eine kleine Nummer. Schließlich schrieb Relotius für den Spiegel, jenes Magazin, das immer noch zu den renommiertesten politischen Publikationen der Welt gehört: Die Glaubwürdigkeit, das wichtigste Gut jeglicher Berichterstattung, war beschädigt.                   

Nun hat sich Michael Bully Herbig an den Stoff gewagt und sich am Gewicht der Geschichte deutlich verhoben: Mag Tausend Zeilen visuell – was Mainstream-Maßstäbe angeht – durchaus überzeugen, hinterlassen der mitunter satirische Ton und vor allem die Perspektive auf die Figur Class Relotius einen mehr als bitteren Beigeschmack. Und: Wer den Fall damals verfolgt hat, wird nichts Neues erfahren. Es liegt der Geruch der bloßen Nachbildung in der Luft – aufregend geht anders.

Änderungen gibt es sehr wohl. So heißt der Betrüger im Film Lars Bogenius. Dieser wird von Jonas Nay als aalglatte Projektionsfläche gespielt: Bogenius ist ein Phantom, ja selbst eine Konstruktion seiner eigenen Lügen. Immer wieder behauptet er, dass er sich um seine krebskranke Schwester kümmern müsse. Allein, diese Schwester gibt es nicht. Aber auch das weiß man bereits. Doch geht es um Bogenius/Relotius ohnehin nur am Rande: Er ist der Auslöser der Geschichte. Im Fokus steht: Juan Moreno, auf dessen Buch Tausend Zeilen Lüge der Film weitgehend basiert, sich aber dennoch in der Perspektive meilenweit entfernen muss.

Im Buch schilderte der Reporter seine Sicht der Dinge, erzählt, wie es ihm trotz aller Widerstände gelungen ist, den Stern seines gehypten Kollegen vom Himmel zu holen. Ein Film aber folgt einer anderen Dramaturgie: In Tausend Zeilen ist Moreno (Elyas M’Barek) der ehrenwerte, vertrauenswürdige Held der Geschichte.

Hauptsächlich sehen wir den Reporter am Abgrund zum privaten Desaster: Der Vater von vier Kindern vernachlässigt seine Familie und riskiert die Trennung, den großen Knall. Alles nur im Namen der Wahrheit. Das mag so gewesen sein, verändert aber in der Art und Weise der Inszenierung alles. Herzlich willkommen in der abgestandenen Bilderwelt deutscher Feel-Good-Komödien aus dem Hause Schweiger-Schweighöfer-M’Barek: Familie im Altbau, schöne Farben und süße Kinder. Wer sich für die politische Brisanz des Films nicht interessiert, wird vielleicht hier fündig.

Während Moreno also um sein Privatleben kämpft, sitzt Bogenius/Relotius an schönen sonnigen Orten, schreibt seine Texte und lässt sich von seiner Umgebung zu mitreißenden Formulierungen inspirieren. Er schmückt mit Leichtigkeit das aus, wofür Moreno bei seinen Recherchen schwitzen und arbeiten muss. Dieses Narrativ ist zu einfach. Es lenkt ab von den strukturellen Problemen einer Branche, in der dieser Betrug überhaupt möglich war. Es wird der Eindruck vermittelt, man habe es bloß mit individuellem Fehlverhalten zu tun.

Aber halt, war da nicht noch was? Ja, die ehrenwerte Chefetage beim Magazin, das hier natürlich nicht Spiegel heißt, aber ohnehin arg skizziert wirkt. Herbig wählt dabei in der Darstellung des Spitzenpersonals einen satirischen Ton, den man wohlmeinend als Verneigung vor Dietl lesen könnte. In die Zeit passt das trotzdem nicht mehr: Der Fall Relotius ist meilenweit von der Schickeria entfernt. Diese aber hielt hier Einzug: Da stehen der Ressortleiter Rainer M. Habicht (Michael Maertens) und der Vize-Chefredakteur Christian Eichner (Jörg Hartman) als eitle Gockel auf dem Golfplatz und berauschen sich an ihrem neuen Starjournalisten, dessen Erfolg auch sie nach oben befördern soll.

Herbig bedient sich einer populistischen Vereinfachung, wo eine Analyse der Strukturen angebracht gewesen wäre. Wie bereits gesagt: Der Film sieht großartig aus. Allein, er fügt seiner Geschichte keine wirkliche Kritik hinzu, beschränkt sich auf eine bloße Dramaturgisierung der Ereignisse und tappt damit zumindest einen Fuß breit in die Relotius-Falle. Dessen Perspektive wird zudem gänzlich ausgespart. Jeder schlechte Witz geht auf seine Kosten, der nun in den Augen der Öffentlichkeit als Schuft dasteht und all die Schuld auf sich laden muss. Hauptsache der Journalismus hat für den Moment gewonnen und wir können mit einem guten Gefühl das Kino verlassen: Moreno M'Barek, unser Held.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/tausend-zeilen-2022