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Francesca Archibugi hat den Roman „Der Kolibri“ von Sandro Veronesi verfilmt – und liefert ein überladenes Werk.

Der Kolibri - Chronik einer Liebe (2022)

Eine Filmkritik von Jens Balkenborg

Eine Perlenkette der Extreme

Bei Literaturverfilmungen geht es darum, entweder werkgetreu zu arbeiten oder, wie ein Michael Haneke es zur Perfektion getrieben hat, aus der Vorlage ein sehr eigenes kinematografisches Werk zu derivieren. So oder so besteht die Kunst in der Konzentration, darin, Literatur durch gezielte Auslassungen und eine filmische Sprache in das neue Medium zu überführen. Wie wichtig diese Konzentration ist, das zeigt sich wunderbar an Francesca Archibugis Epos „Der Kolibri“, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Sandro Veronesi. Leider, muss ergänzt werden, denn der italienischen Regisseurin ist genau das nicht gelungen. 

Ihre Verfilmung springt, einem Stream of Consciousness gleich, durch die Jahre und Jahrzehnte und fängt einen Zeitraum von den frühen 1970er-Jahren bis in die Gegenwart ein. Marco Carrera (als Erwachsener: Pierfrancesco Favino) ist der tragische Held dieses auch metaphorisch überladenen, melodramatisch aufgeladenen Panoptikums. Kolibri wird er genannt, weil er als Kind zu klein ist, weshalb der Vater, ein Ingenieur, ihn zu einer Hormontherapie verdonnert. 

Gleich zu Filmbeginn, irgendwann in den 70ern, liegen die Konflikte und Gefühle offen zutage. Marcos nie glückliche Eltern streiten, während sie sich ausgehfertig machen, wenig später begeht seine Schwester Selbstmord. Wie an einer Perlenkette der Extreme reihen sich über die Jahre die Schicksalsschläge und Zufälle aneinander: Die Eltern erkranken in hohem Alter an Krebs, Töchter verunglücken, und Marcos Frau Marina (Kasia Smutniak) leidet an einer bipolaren Störung. Sie werden ein Paar, weil Marco die ehemalige Stewardess nach dem Absturz eines Flugzeugs aufsucht, mit dem beide eigentlich fliegen wollten. Er wurde von einem Bekannten, genannt „Der Unaussprechliche“, im Flieger gewarnt – eine seltsame Figur, deren übernatürlicher Einfluss auf das Schicksal mehr schräg denn mysteriös wirkt. 

Als wäre das nicht genug Stoff für mehrere Filme, pflegt Marco auch noch eine so leidenschaftliche wie platonische Beziehung zu Luisa (als Erwachsene: Bérénice Bejo), einer Jugendliebe. „Hast du gewusst, dass die Azteken dachten, dass man sich in einen Kolibri verwandelt, wenn man als Held stirbt?“, fragt sie ihn einmal vielsagend. Dass Marco Augenarzt ist, darf natürlich als melancholische Metapher gelesen werden, denn oft scheint er, ob gewollt oder unterbewusst, blind für die Wirklichkeit zu sein. Ein Verbündeter gegen seine Blindheit wird der von Nanni Moretti gespielte Analytiker von Marcos Frau. 

Zusammengehalten von einem rührigen Piano-Score von Francesca Archibugis Ehemann, dem Komponisten Battista Lena, wirft uns Der Kolibiri in eine emotionale Tour de Force durch sich mosaikartig zusammensetzende Jahrzehnte. Das gestaltet sich dank der dynamischen Kamera von Luca Bigazzi (La Grande Bellezza) visuell interessant. Die Kamera gleitet oft in Seitwärtsbewegungen durch die ansprechenden Räume und Topografien, quasi als visuelle Entsprechung der persönlichen Chronik, die sich aus Splittern zusammensetzt. In einem Schwenk vergehen Jahrzehnte, fließen Orte und Personen in verschiedenen Entwicklungsstadien ineinander.  

Nur kann die visuelle Kunstfertigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Film heillos überladen ist. Die Spotlights gleichen einem Staffellauf durch die literarische Vorlage, bei dem weder die Szenen wirklich atmen noch Figuren (außer Marco) Tiefe entwickeln können. Psychische Erkrankungen, toxische Beziehungen, ungelebte Lieben, heftigste Schicksalsschläge aller Art und später noch aktive Sterbehilfe: Der Kolibri platzt bei seiner Themenvielfalt und dem breiten Personal buchstäblich aus allen Nähten. 

Darüber hinaus neigt die italienische Regisseurin und Drehbuchautorin Archibugis dazu, jegliche Verfasstheiten in einer Kohärenz der Ereignisse aufzulösen. Anstatt Verborgenes erzählerisch zu umkreisen, serviert das Drehbuch alles nach ein paar Sprüngen durch die Jahre auf dem Silbertablett. Das führt dann ganz unweigerlich auch dazu, dass die Mechaniken des Drehbuchs zwischendurch sehr laut poltern – vor allem bei jenen Dialogen, die, eher an die Zuschauer gerichtet, unnötigerweise Ereignisse einordnen oder erklären sollen. 

Wie sagt Luisa einmal zu Marco, der ihrer Meinung nach wie ein Kolibri auf der Stelle fliegt? „Du bist wirklich ein Kolibri: Du tust alles dafür, da zu bleiben, wo du bist.“ Archibugis Film tut alles dafür, (emotional) zu bewegen, und bleibt doch selbst stecken.

Der Kolibri - Chronik einer Liebe (2022)

DER KOLIBRI erzählt die Chronik einer Liebe. In ihrem Zentrum steht Marco Carrera, genannt „der Kolibri“. Als Jugendlicher verliebt er sich während eines Urlaubs am Meer in Luisa Lattes. Ihre Liebe wird unerfüllt bleiben, aber Marco sein Leben lang begleiten. Seine Geschichte ist geprägt von Verlust und tragischen Zufällen, aber auch von der absoluten Liebe zu einer Frau, die immer ein Traum bleiben wird, und zu seiner Tochter und Enkelin. 

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