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In „Kraft der Utopie — Leben mit Le Corbusier in Chandigarh“ gehen Karin Bucher und Thomas Karrer zum 70-jährigen Bestehen der Planstadt der Frage nach, ob die Vision von Le Corbusier Realität wurde.
 

Kraft der Utopie - Leben mit Le Corbusier in Chandigarh (2023)

Eine Filmkritik von Reinhard Kleber

Eine künstliche Stadt in Indien

Der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier (1887-1965) zählt zu den einflussreichsten Baumeistern und Architekturtheoretikern des 20. Jahrhunderts. Ab 1952 entstand in Nordindien sein wahrscheinlich größtes Werk: die künstlich angelegt Stadt Chandigarh. Rund 70 Jahre danach besuchen die Schweizer Dokumentaristen Karin Bucher und Thomas Karrer die heutige Hauptstadt der Bundesstaaten Punjab und Haryana, sprechen mit Bewohnern über ihre Erfahrungen mit dem visionären Konzept und fragen: Was ist von der einstigen Utopie geblieben?

Wie kam Le Corbusier nach Indien? Im Zuge der Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich im Jahr 1947 spaltete sich das vorwiegend von Muslimen bewohnte Pakistan von Indien ab, in dem mehrheitlich Hindus leben. Dadurch befand sich Lahore, die bisherige Hauptstadt des Punjabs, auf pakistanischem Gebiet. Der indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru ordnete daraufhin die Planung einer neuen Hauptstadt der Provinz Punjab an. 1950 erhielt Le Corbusier den Auftrag für die erste moderne Planstadt Indiens, in der 500.000 Menschen leben sollten. Sein ambitionierter Masterplan sah eine Aufteilung in 56 Sektoren vor, in denen entweder gewohnt, eingekauft oder gearbeitet werden sollte. Er entwarf die Vision einer modernen, humanen Stadt, erbaut nach dem „Maß des Menschen“, die ein kulturelles Leben und ein harmonisches Zusammenspiel von Mensch und Natur ermöglichen sollte. Heute wohnen in und um Chandigarh, das die stolzen Bewohner „City Beautiful“ nennen, rund 1,4 Millionen Menschen. 

Was ist aus dem ambitionierten Labor für ein neues Zusammenleben in einer Kunststadt im Einklang mit der Natur entstanden? Was können wir heute von Chandigarh lernen? Mit diesen Leitfragen nehmen uns die Schweizer Filmemacher, die 2020 ihren ersten gemeinsamen Kinodokumentarfilm Zwischenwelten über traditionelle Gebets- und Geistheiler in den Appenzeller Alpen vorlegten, mit auf ihre Rundgänge in der Stadt, in der noch heute die vorausschauende und großzügige Planung Le Corbusiers für das neue Verwaltungszentrum ins Auge fällt. Bucher und Karrer befragen in ihrem konventionell strukturierten Dokumentarfilm vier einheimische Kulturschaffende ausführlich, sprechen aber auch mit Anwälten und Beamten, einer Studentin und einem Tänzer. 

Mit der Kamera halten sie immer wieder Impressionen fest, darunter Bauwerke von Le Corbusier, Villen, Wohnhäuser und weitläufige Parks, wobei einheimische musikalische Klänge dezente Stimmungsakzente setzen. Während manche Gebäude des Architekten offenkundig gut in Stand gehalten werden, sieht man bei anderen den Beton bröckeln. Hitze und der starke Monsunregen setzten dem Beton zu, erläutert Deepika Gandhi, die das städtische Architekturmuseum und das Le Corbusier Center leitet. Zwischendurch zeigen historische Bildfolgen und Fotos die Bauarbeiten für die Stadt, die in der Nähe eines von Le Corbusier neu angelegten Sees am Fuße des Himalayas aus dem Boden gestampft wurde.

Am imposantesten sind noch heute die großen Regierungsgebäude wie Parlament, Gericht und Verwaltungsgebäude, die in brutalistischem Betonbaustil errichtet wurden. Dieses Gebäude-Ensemble im Kapitolkomplex übernahm die UNESCO 2016 zusammen mit 16 weiteren Bauten Le Corbusiers in insgesamt sieben Ländern in ihre Liste des Weltkulturerbes. Leider haben die Behörden das Areal nach einem Selbstmordanschlag im Jahr 1992 abgesperrt, sodass die Einwohner es nicht mehr besuchen können. „Geführte Rundgänge sind nur noch mit Spezialbewilligungen möglich“, erklärt eine Off-Kommentatorin im Film. 

Diese als willkürlich empfundenen Maßnahmen stoßen auf scharfe Kritik: Der Schauspieler und Stadtaktivist Gurcharan Singh Channi meint, die Regierung wolle offensichtlich alles unter Kontrolle halten. Der in Chandigarh geborene Architekt Siddharta Wig merkt an: „Manche verbringen ihre Leben hier, ohne das Sekretariat oder das Versammlungsgebäude zu sehen. Was für eine Schande!“ Channi warnt zudem vor einem bedenklichen Trend zur Musealisierung: Chandigarh sollte eine lebendige Stadt sein, sie sollte wachsen, sich entwickeln, aus der Vergangenheit lernen und in die Zukunft schauen. Im Abspann erinnert der Film an diesen auskunftsfreudigen Künstler, der im Mai 2021 dem Corona-Virus zum Opfer fiel. 

Auch an anderen Stellen tragen die Filmautoren bei ihren Streifzügen jenseits touristischer Kurzvisiten wertvolle Erkenntnisse zusammen. So erfährt man von einem älteren Anwalt, dass Le Corbusier, dessen Bildnis seit 1997 auf dem Schweizer 10-Franken-Geldschein prangt, sich während der Bauzeit jeweils nur zwei mal im Jahr in Chandigarh aufhielt. Das operative Geschäft vor Ort erledigte dagegen sein Vetter Pierre Jeanneret (1896-1967), der das ganze Jahr in Indien blieb. 

Mehrere Experten bemängeln, dass das Edikt von Chandigarh, mit dem die Architekturikone eine Veränderung der Bausubstanz praktisch ausschloss, sich inzwischen als Hemmschuh der Fortentwicklung erweise. Denn eine verdichtete Wohnbauweise wird so verhindert. Da die Stadt, die inzwischen das höchste Durchschnittseinkommen pro Kopf in Indien aufweist, wegen ihrer attraktiven Lebensbedingungen immer mehr Zuwanderer anzieht, wuchert Chandigarh an den Rändern; dort entstanden zum einen Slums, zum anderen reihenweise Hochhäuser in den neuen Satellitenstädten Mohali und Panchkula. Und die Probleme wachsen, je erfolgreicher die Stadt wird, allein schon weil die indische Bevölkerung jedes Jahr um 17 bis 20 Millionen Menschen wächst. Die Größenordnung bringt der Advokat Manhoman Sarin auf den Punkt: „In Indien kommt jedes Jahr ein Australien hinzu.“

Schade ist, dass Bucher und Karrer sich bei ihren Befragungen auf Kulturschaffende, Intellektuelle und andere Akademiker beschränken. Einzige Ausnahme ist ein Gastwirt, der seit Jahrzehnten in Chandigarh lebt und mit Hinweis auf die stetig steigenden Immobilienpreise beklagt: „Leute mit Durchschnittseinkommen können sich kein Haus mehr leisten.“ Weitere Stimmen aus dem „einfachen Volk“ hätten den filmischen Überblick über die heutigen Lebensverhältnisse mit Sicherheit authentischer und anschaulicher gemacht.

Kraft der Utopie - Leben mit Le Corbusier in Chandigarh (2023)

Mit dem Bau der indischen Planstadt Chandigarh hat der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier vor 70 Jahren sein Lebenswerk vollendet. Chandigarh ist ein umstrittenes Gesamtkunstwerk, eine mutige Utopie der Moderne. Der Film begleitet vier Kulturschaffende, die in der geplanten Stadt leben und reflektiert in einer atmosphärisch dichten Erzählung Le Corbusiers Erbe, utopische Stadtideen und die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West. (Quelle: Swiss Films)

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