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 In „Plastic Fantastic“ befasst sich Isa Willinger mit dem Umweltproblem Plastik – und lässt dabei unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen.

Plastic Fantastic (2023)

Eine Filmkritik von Reinhard Kleber

Die Sterne des Ozeans

Es ist paradox: Obwohl weltweit die Müllberge wachsen und eine gewisse Abkehr vom Kunststoff durchaus eingesetzt hat, steigt die Plastikproduktion weiter an. In den letzten 15 Jahren ist weltweit mehr Plastik produziert worden als in den 40 Jahren zuvor. Doch woher kommen all die alltäglichen Plastikobjekte, viele davon zum einmaligen Gebrauch? Und noch wichtiger: Wohin gehen sie? Wie können wir verhindern, dass so viele Mikroteilchen in Flüssen und Meeren landen und damit letztlich wieder in unseren Körpern? Mit diesen Fragen befasst sich die Münchner Dokumentarfilmerin Isa Willinger in ihrem erfreulich sachlichen und kenntnisreichen Film „Plastic Fantastic”, der Umweltaktivisten ebenso zu Wort kommen lässt wie Lobbyisten der petrochemischen Industrie.

Die filmische Spurensuche beginnt tief unter der Erde. Durch lange dunkle Gänge in der hessischen Untertagedeponie Herfa-Neuroda transportieren Lastwägen große Säcke mit Feinstaub aus Müllverbrennungsanlagen bis zu weitläufigen Hallen, wo sie zur Endlagerung gestapelt werden. Der Staub ist zu giftig, um ihn über der Erde zu lagern, denn er enthält Schwermetalle, Dioxine und Furane. Die entstehen unter anderem bei der Verbrennung von Kunststoffen bei sehr hohen Temperaturen, erklärt ein Mitarbeiter im Tunnel.

Während das verbrannte Plastik immerhin der Umwelt entzogen ist, wächst die Flut des Kunststoffs an, der längst allgegenwärtig ist. „Es gibt 500 Mal mehr Plastikpartikel in den Ozeanen als Sterne in unserer Galaxie“, heißt es gleich zu Filmbeginn auf einer Texttafel. „Jede dritte Plastikverpackung landet im Ozean, heißt es an anderer Stelle. Um die Plastikflut einzudämmen, wurde lange das Recycling angepriesen. Doch es funktioniert nur teilweise. Nur neun Prozent der Kunststoffe werden auf der Welt recycelt. Die erhoffte Wiederverwertung scheitert oft schon daran, dass in Kunststoffprodukten mehrere Sorten davon vermischt sind.

Die Kreislaufwirtschaft sei ein „leeres Schlagwort“, sagt im Film der Fotojournalist James Wakibia aus Kenia. Er fordert ein „Redesign der petrochemischen Industrie“, die Produkte ohne schädliche Umweltauswirkungen herstellen müsse. Mit einer von 2013 bis 2017 laufenden Kampagne gegen Plastiktüten war Wakibia in seiner Heimat zu seiner eigenen Überraschung erfolgreich: Die Regierung erließ ein Verbot von Plastiktüten. Wer gegen das Herstellungs- und Einfuhrverbot verstößt, muss mit Geld- und sogar Haftstrafen rechnen.

Wakibia ist nur einer von diversen Umweltaktivisten, Wissenschaftlern und auch Industrie-Lobbyisten aus Deutschland, den USA und Kenia, die Willinger besucht und zur aktuellen Kunststoffkrise befragt hat. So kämpft die pensionierte Lehrerin Sharon Lavigne in Lousiana gegen die Ansiedlung einer neuen Fabrik, die Chemikalien für die Plastikproduktion herstellen will. Denn in ihrer Kleinstadt gibt es schon jede Menge Plastik- und Chemiewerke und bei den Anwohnern eine überdurchschnittliche Krebsrate. Die Ozeanografin Sarah Jeanne Rover aus Hawaii zeigt uns anschaulich, wie viele Einwegplastikteile von hohen Wellen an den nur scheinbar idyllischen Sandstrand gespült werden. Am häufigsten findet sie Zigarettenkippen, gefolgt von Flaschenverschlüssen.

Die wichtigsten Erkenntnisgewinne des Films liefern jedoch ein deutscher Professor und ein amerikanischer Anwalt. „Die Hälfte des Mikroplastiks in der Elbe ist Reifenabrieb“, lernen wir von Professor Michael Braungart von der Universität Lüneburg. Seinen Studierenden, die mit ihm am Elbufer Müll aufsammeln, erklärt er mit Blick auf das Mikroplastik, das jeder Mensch unfreiwillig im Körper ansammelt: „Die Fruchtbarkeit ihrer Generation hat sich im Verhältnis zu meiner Generation halbiert.“ Und er übt deutliche Kritik an der Kunststoffindustrie: „Der Gewinn ist privatisiert, das Risiko trägt die Allgemeinheit.“ Umso energischer sucht er nach intelligenten Lösungen für eine wirklich funktionierende Kreislaufwirtschaft und präsentiert als Beispiel komplett kompostierbare Schuhe.

Der Umweltanwalt Steven Feit vom Zentrum für internationales Umweltrecht aus Washington, D.C. wiederum schärft unseren Blick für essenzielle wirtschaftspolitische Zusammenhänge und Entwicklungen. Die aktuelle Diskussion über Wohl und Wehe des Kunststoffs fokussiere sich auf Abfall und Meeresverschmutzung, müsse aber erweitert werden auf die fossilen Ursprünge und vollen Lebenszyklen. „Einige der größten Ölfirmen sind auch die größten Produzenten von Plastik“, sagt Feit. Die enorme Ausweitung der Plastikproduktion in den USA seit 2016/17 sei eine direkte Folge des Fracking-Booms, so der Jurist. Längst sei Plastik „die erste Wachstumsstrategie der Öl- und Gasindustrie im 21. Jahrhundert.“ 

Die Autorin und Regisseurin legt es in ihren ruhigen und klar gegliederten Bildfolgen, die auf Off-Kommentare verzichten, keineswegs darauf an, die Kunststoffindustrie an den Pranger zu stellen. Mit dieser unaufgeregten, zurückhaltenden Gestaltungsweise erinnert Plastic Fantastic an ihre erste Kinodoku Hi, AI (2019), in der sie sich ohne vorschnelle Urteile mit den Licht- und Schattenseiten der Künstlichen Intelligenz auseinandergesetzt hat. Kritische Argumente werden in ihrem neuen Werk mit dem ironischen Titel von den interviewten Gewährsleuten fast immer sachlich vorgebracht.  Und die Lobby der Industrie erhält durchaus beachtlichen Raum für ihre Public-Relations-Arbeit.

So trommelt Joshua Baca, ein Sprachrohr des Wirtschaftsverbands American Chemistry Council, fleißig für innovative Recyclingtechnologien, die in Zukunft angeblich den großen Unterschied machen sollen. An anderer Stelle wirft er eine typische Nebelkerze mit der Frage: Was wäre denn die Alternative, wenn man etwa alle Plastikteller durch Papierteller ersetzen würde? Und der Antwort: „Wir würden von einer Plastikmüllkrise zu einer Papiermüllkrise übergehen.“ Ja, er stellt sogar die steile These auf, dass Verbote würden nie funktionieren. Dabei beweist gerade das Beispiel des Plastiktütenverbots in Kenia das Gegenteil.

Plastic Fantastic (2023)

Es gibt 500 Mal mehr Plastikpartikel in den Ozeanen als Sterne in unserer Galaxie. Plastik ist in den Flüssen und Meeren, in unserer Luft, im Boden und sogar in unseren eigenen Körpern. Welche Lösungen für die Plastikkrise hält die Kunststoffindustrie bereit und wie ernsthaft verfolgen sie diese? Gibt es echte Alternativen? Und könnten wir überhaupt auf Plastik verzichten?

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