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In Agnieszka Hollands neuem Film kreuzen sich die Wege einer syrischen Flüchtlingsfamilie, einer einsamen Englischlehrerin aus Afghanistan und eines jungen Grenzschutzbeamten an der polnisch-belarussischen Grenze.

Green Border (2023)

Eine Filmkritik von Patrick Fey

Der Glaube in die Wirkmächtigkeit des Kino

Es gibt Filmemacher*innen, die es uns schwer machen, eine kritische Distanz zu ihren Werken zu entwickeln. Die Dardennes sind solche (ihr letzter Film „Tori und Lokita“ im Besonderen), Ken Loach ist so einer („The Old Oak“, ebenso dessen letzter), und die 74-jährige Agnieszka Holland ist so eine. Angesichts des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Karriere und der sie durchziehenden geschichtspolitischen Themen braucht man allerdings nicht davon ausgehen, dass die Rezeption ihrer Werke für sie von größerem Belang ist. Dass es wichtigere Probleme auf dieser Welt zu besprechen gibt, davon zeugen ihre Filme ohnehin.

33 Jahre nachdem Hollands Hitlerjunge Salomon erschien – es war das Folgejahr des Mauerfalls, und die Aussicht auf ein offenes und liberales Europa schien weniger greifbar als immanent –, zeigt sich Holland hinsichtlich eines wertebasierten, freiheitlich-demokratischen Europas mit ihrem Drama Green Border sämtlicher Illusionen beraubt. Die Europäische Union, so zeigt uns Holland, gleicht einer Festung, die sich – ob auf legalem oder illegalem Weg – zu helfen weiß, all jene außerhalb der Grenzen zu halten, die sie nicht willens ist, aufzunehmen. Die titelgebende grüne Grenze referiert auf den Białowieża-Urwald, in dem die Grenze zwischen Polen und Belarus verläuft und damit auch die EU-Außengrenze. Mittels einer ätherischen Kamerafahrt fliegen wir in der ersten Einstellung über das weite Grün hinweg, das sich alsbald in monochrome Tristesse verwandelt. Als hätte man es seiner Hoffnung entzogen.

Es ist eine Aufnahme, wie man sie heutzutage öfter zu sehen bekommt, die durch ihre spätere Rekontextualisierung aber an Dimension gewinnt, als wir die Hubschrauber der Grenzkontrolle über das dichte Grün hinwegfliegen sehen und damit die Bedrohung für die Gruppe Geflüchteter erkennen, mit denen uns Holland zu Beginn vertraut macht. Diese lernen wir im Anschluss im Flugzeug gen Belarus sitzend kennen, das, obwohl verschiedene Ziele anpeilend, für alle nur als Zwischenstation gedacht ist. Sei es, um sich in Polen niederzulassen oder weiter nach Schweden zu reisen.

Als die Gruppe in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Jeep des Schleppers geworfen wird, den sie dafür bezahlt haben, sie sicher über die Grenze zu bringen, und angepeitscht durch das belarussische Grenzpersonal unter dem NATO-Draht der polnischen Seite entgegenkriechen, wird schnell klar, auf welche Prämisse Holland ihren Film aufbaut. Denn kaum hat es die Gruppe unter dem Klingenzaun hindurch in die vermeintliche Freiheit der Europäischen Union geschafft, findet sie sich wieder in den Händen der polnischen Grenzpolizei. Die erweist sich im Umgang mit den Geflüchteten nicht nur als ausgesprochen grausam, sondern schickt diese auch auf schnellstmöglichem Weg wieder über die Grenze zurück.

Wer die Nachrichten der vergangenen Jahre auch nur überflogen hat, überrascht dieser Kampf der Grenzpolizei um die Verantwortlichkeit der Geflüchteten – vornehmlich aus Staaten des Nahen Ostens und der Arabischen Halbinsel – nicht. Infolge der durch Länder des globalen Nordens weitgehend nicht anerkannten Präsidentschaftswahl des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko hatte dieser im Sommer 2021 begonnen, Flugreisen nach Belarus mit der Aussicht auf leichte Einreisemöglichkeiten in die EU via Polen, Litauen oder Lettland zu incentivieren.

Während sich die liberale EU-Presse in der Einschätzung Lukaschenkos als skrupelloser Diktator schnell einig war, bedurfte es schon größerer journalistischer Integrität, im Gegenzug nicht die Augen vor den menschenverachtenden Gegenmaßnahmen der EU-Länder zu verschließen. Analog zu den vielen Verbrechen, die Frontex auf dem Mittelmeer beging, hat es auch an der belarussischen Grenze unzählige Pushbacks gegeben, und wenn sich Hollands Ansatz auf ein Anliegen reduzieren ließe, dann läge dieses zweifellos in der Sichtbarmachung dieser sich dem Völkerrecht entziehenden Gräueltaten. 

Green Border konfrontiert uns einmal mehr mit den Grenzen eines Kinos, das all seine Thesen schon vor der Konzeption der ersten Einstellung sorgfältig ausgearbeitet hat und dem Publikum keine andere Wahl lässt, als den dargelegten Befund zu goutieren. Allerdings wohnt diesem Ansatz das gleiche Problem inne, das der Film selbst an mehr als einer Stelle aufzeigt: Niemand, der nicht ohnehin schon für das Thema eingenommen ist, wird sich diesen Film ansehen. Und alle, die ihn sehen werden, sind mit der Materie so weit vertraut, dass sie die Argumentationen inhaltlich, bisweilen gar wortgetreu aus den Politik-Kommentarspalten wiedererkennen.

An mehr als einer Stelle wird Bewohner*innen der Grenzregion Videomaterial gezeigt, in dem das Leiden der Geflüchteten, die in der Grenzregion zwischen Polen und Belarus hin- und hergeschubst werden, unleugbar dokumentiert ist. Dass sich die Pol*innen nicht gewillt sehen, sich diesen Bildern auszusetzen, kommt nicht überraschend, schließlich fehlt es der EU und ihren Bürger*innen nicht an Informationen. Hier betritt Holland einen lohnenswerten Pfad, den sie aber in der Folge nicht bereit ist, weiter zu erforschen. Angesichts dessen kommt es einem blinden Fleck gleich, wenn Holland sich daran versucht, diese Bilder auf solche Weise in eine kinematografische Sprache zu übersetzen, dass sie ein Publikum jenseits der liberalen Festival-Landschaft erreicht. Insofern muss sie sich die Frage gefallen lassen, was ihren Film von den schwer erträglichen Aufzeichnungen aus der Grenzregion unterscheidet, die durch das Internet kursieren. 

Wenn Holland, die sich selbst einer Generation von Filmemacher*innen angehörig fühlt, die versucht, im Kino die Probleme der Welt zu repräsentieren, sich also trotz des offenkundigen Widerspruches dazu entscheidet, Green Border zu realisieren, spiegelt sich darin vor allem ihr Glaube an die Wirkmächtigkeit des Kino wider, der andernorts bereits verlorengegangen scheint. Durch ihre multiperspektivische Narration — fokalisiert werden die Geflüchteten, die Grenzpolizei, die Aktivist*innen sowie die zur späten Protagonistin avancierende Julia (Maja Ostaszewska) — mag Holland ihrem Anspruch, ein umfassendes Bild der politischen Situation zu zeichnen, auf den ersten Blick auch näherkommen. Gelungen ist hier etwa die Aufspaltung der Aktivist*innen in zwei Lager: jene, die sich aufgrund der gemachten Erfahrungen mit den Regeln der Grenzpolizei arrangieren, und jene (repräsentiert durch Julia), die sich mit dem Status Quo nicht abfinden können und unter persönlichem Risiko alle zur Verfügung stehenden Ressourcen einsetzen, um die Geflüchteten vorbei an den innerpolnischen Grenzkontrollen zu schleusen. 

Schnell erschöpft sich allerdings der Reiz ihres Figurenensembles angesichts der klar abgesteckten moralischen Fronten. Die morbide Freude der Grenzpolizist*innen, wenn sie sich frei von jeglicher Moral auf grausame Weise an den Schutzlosen vergehen, mag sich womöglich gar in der Realität wiederfinden. Letztlich schneidet sich in diesen hässlichen Fratzen allerdings Hollands gesamtes Projekt: Sie spiegelt die Entmenschlichung der Geflüchteten durch die Taten der Grenzpolizei auf diese zurück. Die Staatsorgane stellen sich als die wahren Monster heraus. Die Schwarzweiß-Bilder tun da ihr Übriges.

Hollands Versuch, einem Grenzkontrolleur eine Entwicklung zuzugestehen, gerät so erwartbar wie halbherzig. Ebenso wie die den Film beschließende Texttafel, die uns die bittere Pointe präsentiert, dass die EU innerhalb der vergangenen Jahre 30.000 Menschen im Mittelmeer ertrinken ließ, während binnen kürzester Zeit und mit großem Engagement zwei Millionen ukrainische Kriegsgeflüchtete in Polen aufgenommen wurden. Dieser kognitiven Dissonanz, wie auch immer man sie interpretieren mag (Rassismus; durch kulturelle Nähe bedingte Voreingenommenheit), weicht Holland mittels der Texttafeln aus. Die Widersprüche, und darin bleibt Holland konsistent, bleiben somit allein auf der Textebene, deren kinematografische Entsprechung Holland bis zuletzt schuldig bleibt.

Green Border (2023)

Im Film kreuzen sich die Wege einer syrischen Flüchtlingsfamilie, einer einsamen Englischlehrerin aus Afghanistan und eines jungen Grenzschutzbeamten an der polnisch-belarussischen Grenze. Die dortige humanitäre Krise, ausgelöst vom belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka, sorgt dafür, dass viele Migranten versuchen, die Grenze als „Hintertür“ zur illegalen Einreise in die Europäische Union zu nutzen. (Quelle: Variety)

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Meinungen

Klaus Fuchsberger · 13.02.2024

Sehr geehrter Herr Fey, Ihre Filmkritik zu "Green Border" ist eine Frechheit, unqualifiziert und ärgerlich. Die Voreingenommenheit, die Sie der Regisseurin vorwerfen, fällt auf Sie zurück. Es ist armselig, A. Holland und nebenbei noch die Dardenne-Brüder und Ken Loach im selben Atemzug niederzumachen. Wieso soll man kritische Distanz zu ihrem Werk entwickeln? Alle genannten Regisseure haben großartige Filme gedreht, die emotional berühren und absolut relevant sind. Mehr denn je haben solche Filme ihre Berechtigung im Kino. Dafür haben Sie offenbar keinerlei Sense. "Green Border" ist ein großartiger, spannender Film. Auf Ihre Kritik kann man gerne verzichten. mfG Klaus Fuchsberger