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In „Memory“ schildert Michel Franco, wie sich eine traumatisierte Frau (Jessica Chastain) und ein demenzkranker Mann (Peter Sarsgaard) näherkommen. Klischees haben zwischen den beiden erfreulicherweise keinen Platz.

Memory (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

It Had to Be You

Liebesfilme leben von der Überzeugung, dass ihre zwei Hauptfiguren ganz unbestreitbar zusammengehören. Diese beiden müssen sich einfach finden, denn sie bedeuten einander das große Glück! Jede andere Person, die dazwischenfunkt, ist deshalb ein Störfaktor. Selbst wenn es in der dramatischen Variante einer solchen Erzählung nicht zum Happy End kommt, weil die historischen Umstände (wie in „Casablanca“) oder eine Katastrophe (wie in „Titanic“) es verhindern, steht völlig außer Frage: Diese zwei Menschen waren füreinander bestimmt. Ihnen wird immer Paris oder die heiße Nacht unter Deck bleiben.

Oft ist das natürlich bloß eine Behauptung. Wäre Ilsa mit dem zynischen Rick auf Dauer tatsächlich glücklich geworden? Haben sich Rose und Jack in dieser kurzen Zeit wirklich gut genug kennengelernt, um schon von echter Liebe sprechen zu können? Das darf gern angezweifelt werden.

In seinem neuen Werk Memory erzählt der 1979 in Mexiko-Stadt geborene Autorenfilmer Michel Franco nun auch eine Love Story – was durchaus überraschend ist, weil sein bisheriges Schaffen wahrlich nicht von Romantik geprägt ist. Mit Sundown – Geheimnisse in Acapulco (2021) lieferte er etwa eine Studie über das dekadent-hedonistische Luxusleben der Reichen und über den Untergang eines Egoisten.

Abermals arbeitet Franco in Memory mit dem Kameramann Yves Cape zusammen, der den Schauplatz New York City nicht als strahlende Metropole, sondern in kühlen Farben einfängt. Hier herrscht keine flirrende Hektik, in der Karrieremenschen mit Coffee-to-go-Bechern durch die Straßen eilen; es gibt keine hippen Leute, die in Bars an Cocktails nippen und clevere Dialoge führen, und keine Künstler:innen auf der Suche nach Inspiration. Stattdessen werden uns Alltagsbilder gezeigt. Die alleinerziehende Sylvia (Jessica Chastain) ist als Sozialarbeiterin in einer Pflegeeinrichtung tätig. Mit ihrer jugendlichen Tochter Anna (Brooke Timber) wohnt sie in einem kleinen Apartment.

Zu Beginn sehen wir Sylvia bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Sie „feiert“ dort gemeinsam mit Anna und den übrigen Teilnehmenden ihr 13-jähriges Jubiläum. Seit 13 Jahren nüchtern. Seit 13 Jahren endlich Kontrolle über das eigene Leben. Was einst zur Sucht führte, wird erst allmählich klar. Das Extra-Schloss und das Alarmsystem an der Wohnungstür, das (über-)beschützende Verhalten gegenüber der Tochter, die betont abweisende Art im Umgang mit anderen Menschen, insbesondere mit Männern – all das lässt uns rasch ahnen, dass Sylvia traumatische Dinge erlebt hat.

Und dann taucht Saul (Peter Sarsgaard) auf. Nein, er wird sich nicht als Held erweisen, der die Protagonistin mit seinem männlichen Charme heilt. Zunächst mutet er gar eher wie eine Bedrohung an. Bei einem Highschool-Ehemaligentreffen, das Sylvia nur ihrer jüngeren Schwester Olivia (Merritt Wever) zuliebe besucht, setzt er sich zu ihr. Sie verlässt prompt die Veranstaltung – und er folgt ihr wie ein Stalker bis nach Hause. Am nächsten Morgen liegt er verfroren vor dem Gebäude. Wie sich herausstellt, ist Saul demenzkrank. Sein Bruder Isaac (Josh Charles) und seine Nichte Sara (Elsie Fisher) kümmern sich um ihn.

Zunächst konfrontiert Sylvia Saul mit einem Vorwurf, der ihre vermeintliche gemeinsame Vergangenheit betrifft, an die Saul sich indes nicht mehr erinnern kann. Dann wird sie zu seiner Betreuerin – und schließlich bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die allerdings von Sauls Bruder nicht befürwortet wird.

Dieser Film könnte so viel falsch machen. Das Trauma von Sylvia und die Krankheit von Saul könnten als Themen ausgebeutet werden, um sogenanntes „Oscar Bait“ zu erzeugen, also wie in Filmen, die einzig dazu dienen, Preise abzuräumen, indem Stars ihren angeblichen Mut beweisen, sich in tragische Rollen einzufühlen und dabei gänzlich uneitel zu agieren. Doch Jessica Chastain und Peter Sarsgaard spielen ihre Figuren – unterstützt durch die subtile Kameraarbeit, die auf Nahaufnahmen weitgehend verzichtet – erstaunlich zurückhaltend.

Eine Konfrontation zwischen Sylvia, ihrer Schwester und ihrer entfremdeten Mutter Samantha (Jessica Harper) wird sogar so distanziert eingefangen, dass sie ihre dramatische Wirkung nach gängigen Genrevorstellungen eigentlich verfehlen müsste. Doch gerade dieser Verzicht auf die üblichen Mittel einer Gefühlssteigerung verleiht diesem Moment etwas äußerst Bemerkenswertes.

Und auch die langsame Annäherung zwischen Sylvia und Saul ist frei von Klischees. Die beiden müssen sich wie zwei verliebte, noch von ihren Eltern abhängige Jugendliche jedes kleinste Stück Selbstbestimmung hart erkämpfen. Die Erschöpfung wird in jedem Blick von Chastain, in jeder Bewegung von Sarsgaard spürbar. 

Der Song A Whiter Shade of Pale von Procol Harum wird gewissermaßen zur traurigen Hymne des Paares. Wir sehen erst Saul und später Sylvia im Bett liegen, während das Lied in Dauerschleife auf dem Handy läuft. Derartige Bilder von liebeskranken Figuren kennen wir aus Werken wie Bridget Jones (2001), wenn die Titelheldin gerade ihren Kummer mit ihrem Liebsten beweint. Aber warum weint Bridget ausgerechnet Mark hinterher? Ist der nicht eh zu langweilig? In Memory wirkt alles ein bisschen ehrlicher.

Was Sylvia in Saul sieht (und umgekehrt), das führen die Inszenierung und vor allem das Schauspielduo uns verblüffend nachvollziehbar vor Augen. Dieser Film bricht alle Regeln der Liebesfiktion – und erfüllt deren Ziel letztlich besser als ein Großteil aller Vertreter des Genres.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Memory (2023)

Die New Yorkerin Sylvia (Jessica Chastain) und den Eigenbrötler Saul (Peter Sarsgaard) verbindet eins: die Erinnerung. Während sie versucht, ihre schmerzliche Vergangenheit zu vergessen, kämpft er mit dem beginnenden Verlust seines Gedächtnisses. Ihr Weg kreuzt sich durch eben diese Umstände. Wider jegliche Erwartung, gegen alle Vernunft und Hindernisse finden die beiden zueinander.

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