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Lætitia Colombani erzählt in der Verfilmung ihres eigenen Romans „Der Zopf“ von drei Frauenschicksalen.

Der Zopf (2023)

Eine Filmkritik von Felix Armbruster

Haare für die Restauration

Drei Frauen erleben in drei Ländern mit jeweils spezifischer kultureller Prägung tiefgreifende Veränderungen in ihrem Leben. Die tägliche Routine bricht nach einem Schicksalsschlag teilweise oder völlig zusammen. Über eine Parallelmontage verbindet Lætitia Colombani diese drei Schicksale nun mit filmischen Mitteln. Im Jahr 2017 erschien der gleichnamige Roman von Colombani unter demselben Titel (Originaltitel La Tresse) in Frankreich. Obwohl die drei Geschichten in Anbetracht ihrer verschiedentlichen kulturellen Verortung kaum vergleichbare Schicksale sind, verweben sie sich auf einer gänzlich anderen Ebene als der der politischen oder religiösen. Vielmehr eint die drei Frauen ein zunächst geschlechtsneutrales Schicksal, das erst in deren Bewältigung geschlechtsspezifische, in ihrer Kultur verankerte Komplikationen aufzeigt.

Der Zopf beginnt mit der Geschichte Smitas und wechselt dann fortwährend die Perspektiven. Die Unberührbare, in Indien lebende Smita, die Italienerin Giulia, die in der Perückenwerkstatt ihres Vaters arbeitet, und zuletzt die kanadische Anwältin Sarah. Allen drei gemein ist eine Lebenskrise, die mit dem Ende der ersten Sequenz eingeleitet wird.

Als Unberührbare hat Smita nicht nur keine Bürgerrechte, sondern auch eine Pflicht zur Arbeit und leidet zudem unter gesellschaftlicher Ächtung und Ausgrenzung. Smita entschließt sich zur Flucht in den Süden Indiens, der ein besseres Leben zumindest in Aussicht stellt. Während der Alltag Smitas von vornhinein bereits bedrohlich prekär situiert ist, erleiden Giulia und Sarah ihren radikalen Einschnitt in unvorhergesehenen Unfällen beziehungsweise einem Krankheitsfall.

Die Bewältigung der Lebenskrise steht im Mittelpunkt des Films, oder vielmehr: Die Bewältigung dreier Krisen ist das zentrale Motiv. Wenn es der ältesten Tochter Sarahs, Hannah, nach etlichen Versuchen und Panikattacken endlich gelingt, ihr Schulreferat über die zähesten Kriegerinnen der griechischen Antike, die Amazonen, zu halten, wird allzu offensichtlich, dass wir diese mit Smita, Giulia und Sarah assoziieren sollen. Hier ginge es ein wenig subtiler.

Die drei Frauen sind höchst unterschiedlich situiert. Smita lebt in der sozialen Stellung eines Sklaven. Als Unberührbare gehört sie der ärmsten sozialen Schicht der Welt an. Jedes Verhalten gegen die Norm wird mit verbalen Ächtungen und Schlägen, im schlimmsten Fall dem Tod bestraft. Ihre Tochter darf die Schule nicht besuchen, und ihren Mann zu verlassen würde die vollkommene soziale Isolation bedeuten, da eine Frau ohne Mann keine Funktion mehr besitze, so die verbreitete Meinung. Als Frau ist sie nichts wert, als Mensch noch viel weniger.

Giulia und Sarah hingegen leben ein für westliche Verhältnisse privilegiertes Leben. Die physische Gewalt und soziale Ächtung und Ausgrenzung, die Smita erlebt, erfahren sie nicht. Giulia kämpft um die wahre Liebe, statt sich für die für sie vorgesehene Auswahl zu entscheiden, die zudem die finanziellen Probleme der Familie mit einem Fingerschnipsen in Luft auflösen könnte. Ihr Kampf gilt den Familientraditionen, die ihren Lebensweg in einem Familienbetrieb auf einer kleinen Insel vorherbestimmen wollen. Im Falle Sarahs handelt es sich um einen Kampf mit der eigens internalisierten Arbeitssucht. Ihr Lieblingssatz: „I’m fine.“ Auch nachdem sie im Gericht vor Erschöpfung in Ohnmacht fällt. 

Diese drei Geschichten werden zunächst und vor allem auf ästhetischer Ebene miteinander verwoben. Ludovico Einaudis eigens für Der Zopf komponierte Klaviermusik verleiht den Schicksalswegen der drei Kämpferinnen eine simultane Schwere. Die Kamera bleibt stets zurückhaltend, beobachtend und spart sich Nahaufnahmen für intime Momente auf. Auf der narrativen Ebene stimmt sich der Spannungsbogen jeder Geschichte auf die andere ab, was bereits an der ersten Sequenz sichtbar wird, wenn alle mit einem Schicksalsschlag enden. Im Mittelteil ergänzen sich gar Dialoge zweier Geschichten, weil im entscheidenden Moment die Montage das Geschehen von Indien nach Kanada versetzt.

Das verbindende Motiv der Geschichten ist das beziehungsweise ihr Haar. Smita will ihres und das ihrer Tochter in einem Tempel der Göttin Vishnu opfern, die in hinduistischen Religionen für die Erhaltung und das Gute steht. Giulia stellt in ihrem Betrieb Perücken traditionell aus sizilianischem Haar her. Und Sarah verliert ihr Haar allmählich, als bei ihr eine Krankheit diagnostiziert wird. Es ist gerade die Beständigkeit des Haares im Allgemeinen. Sie eint wiederum alle Figuren in ihrem persönlichen Kampf, der die Wiederherstellung eines Wertes verspricht. Die Gabe des Haares verspricht es in religiösem Sinne, die Herstellung einer Perücke erneuert in wörtlichem Sinne altes Haar, und das Aufsetzen einer Perücke verleiht der Trägerin ihr einstiges Aussehen wieder.

Wird Der Zopf als eine komparative Arbeit verschiedener Lebenswelten verstanden, stört die Gegenüberstellung der Geschichten. Ein neues Leben in der schlimmstmöglichen Form des Prekariats zu finden, erhält eine gewisse Gleichwertigkeit mit den Lebenskrisen zwei gut situierter Frauen, die in sozialem und finanziellem Reichtum leben. Auf Szenen, in denen Sarahs Alltagsstress in einem Luxusapartment oder einem Hochhausbüro dargestellt werden, folgen jene in denen Smita auf einer Brücke neben Fremden schläft, geschlagen wird und ihr der Tod angedroht wird.

Doch Der Zopf verfolgt niemals den Anspruch, einen Vergleich dieser Geschichten anzustellen, sondern vielmehr deren Gemeinsamkeit im Kampf um die Wiederherstellung eines lebenswerten Alltags zu finden. So beleuchtet Colombani drei Lebensrealitäten in unterschiedlichen Kulturen, die jeweils eigene Herausforderungen stellen. Jedoch lässt sich das Gefühl eines direkten Vergleichs der sozioökonomischen Umstände schwer abschütteln, wenn die Lebensgeschichten der drei Frauen so nah beieinander zu sein scheinen.

Der Zopf (2023)

Indien: Smita träumt davon, dass ihre Tochter in die Schule gehen und so dem Elend, in dem sie als „Unberührbare“ leben muss, entkommen kann. Italien: Giulia arbeitet in der Perückenwerkstatt ihres Vaters. Als dieser nach einem Unfall im Koma liegt, muss Giulia den Betrieb übernehmen und stellt dabei fest, dass das Familienunternehmen hoch verschuldet ist. Kanada: Die renommierte Anwältin Sarah soll zur Partnerin der Kanzlei befördert werden, als sie erfährt, dass sie schwer krank ist.

Drei Leben, drei Frauen, drei Kontinente – drei Schicksale, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Obwohl Smita, Giulia und Sarah sich nie begegnet sind, sind ihre Leben auf bewegende, einzigartige Weise miteinander verwoben.

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