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Darling der Woche

Frankenstein und die Seuche

Ein Beitrag von Christian Neffe

Mary Shelley wird nicht nur nachgesagt, das Science-Fiction-Genre begründet, sondern auch die erste Dystopie der Weltliteratur entworfen zu haben. Letztere wirkt, heute betrachtet, beinahe prophetisch.

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Mary Shelley
Mary Shelley

Happy Frankenstein Day! Nein, das ist kein weiterer dieser willkürlich bestimmten Aktionstage wie der Strawberry Cheesecake Day oder der Step In A Puddle And Splash Your Friends Day, er hat stattdessen einen ganz konkreten Anlass: den Geburtstag von Mary Shelley am 30. August 1797. Auch ein für Filmfans relevantes Datum, gilt Shelley als Autorin von Frankenstein oder Moderne Prometheus doch als Begründerin der Science-Fiction. 1818 erscheinen — zehn Jahre vor der Geburt von Jules Verne — erzählte Shelley von einem Wissenschaftler, der erstmals einen künstlichen Menschen erschafft und fortan von ihm gejagt. Die Geschichte dürfte bekannt sein.

Das Motiv eines künstlich erschaffenen, intelligenten Wesens, das gegen seine Erschaffer*innen aufbegehrt, ist seitdem — neben der Reise in die unbekannten Weiten des Alls — eines der zwei zentralen Themen der Science-Fiction. Was zuvor nur per Magie in der Fantasie möglich erschien, erhielt nun ein ganz andere Faszination, wurde, wenn auch weiterhin pure Fiktion, über Wissenschaft und Technologie rationaler, irdischer und damit glaubhafter machte — das Mystische wurde menschlich. Von anderen Autor*innen weiterentwickelt wurden aus dem fleischlichen Monster Frankensteins ab dem Ende des 19. Jahrhunderts dann bald gänzlich künstliche und bald virtuelle. Und natürlich griff auch der frühe Film dieses Motiv auf, allem voran Fritz Langs Metropolis, später dann immer häufiger, 2001, Blade Runner, Ex Machina, Chappie, etc. Ganz zu schweigen von den zahlreichen direkten Filmadaptionen, die erste von 1910, die bekannteste von 1931.

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Was da im Sommer 1816 nahe dem Genfersee als eine von mehreren spontan erdachten Schauergeschichten seinen Anfang nahm und von Shelley 1818 zunächst anonym veröffentlicht wurde, wird also zu Recht als Klassiker und stilprägendes Werk weit über die Literatur hinaus gesehen. Frankenstein wirft schließlich grundsätzliche Fragen über menschliche Existenz und Handeln auf: Was macht uns aus? Was macht es mit uns, wenn wir zu Schöpfern werden? Wo liegen die Unterschiede zwischen uns und diesen Schöpfungen? Welche Verantwortung haben wir unserem und anderem, „künstlichem“ Leben gegenüber? Fragen, die im Zuge der fortschreitenden Robotisierung umso lauter gestellt werden.

Nebenwirkung dieser Wahrnehmung: Shelley wurde lange Zeit nach ihrem Tod nur auf dieses eine Werk reduziert. Das änderte sich erst Mitte des 20. Jahrhundert, verbunden mit Wiederauflagen und -entdeckungen ihrer weiteren Romane und Erzählungen. Dabei lässt einer dieser Romane seine Autorin das zweite Mal in einem beinahe prophetischen Licht erstrahlen: Verney, der letzte Mensch. Der spielt im 21. Jahrhundert in einer Welt, die von einer Seuche dahingerafft wurde. Wenig überraschend, dass die Veröffentlichung der Neuübersetzung Anfang des Jahres umso mehr Aufmerksamkeit erhielt. Als „allererste Dystopie der Weltliteratur“ wird das Buch vermarktet, und liegt die Versuchung nahe, Shelley nun auch noch als Begründerin der Postapokalypse zu bezeichnen.

Katrin Doerksen schrieb hier vor einigen Tagen in ihrem Porträt über Lisa Joy, dass mit ihr und ihrem Spielfilmdebüt Reminiscence die Science-Fiction weiblich werde. Dem lässt sich anhand von Joys Erfahrungen im männlich dominierten Filmgeschäft auch nicht widersprechen. Doch zumindest im Literaturbereich, das hat dieses kleine Schlaglicht auf Mary Shelley und ihren Einfluss auf den kulturellen Kanon hoffentlich gezeigt, war sie von Beginn an weiblich.

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