Haute Couture - Die Schönheit der Geste (2021)

Die Schönheit der neuen Chancen

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Haute Couture – natürlich: Das klingt nach Dior und Chanel, der Champs-Élysées, den Damen mit Pelzmänteln, Sonnenbrillen und vielen Taschen in den Händen. Und das ist auch das eine Paris, das der Film von Sylvie Ohayon uns zeigt. Auf der anderen Seite aber hat er auch die Vorstädte im Fokus, in denen Menschen leben, die keinen Plan haben für ihr Leben, nie gefördert, aber immer gefordert wurden, deren kranke Eltern zu Hause sitzen oder deren kriminelle Geschwister nie zu Hause sind. Von dieser Kluft und ihrer Überwindung erzählt "Haute Couture".

Esther (Nathalie Baye) ist erfahrene Schneiderin und langjährige Direktrice in den heiligen Hallen von Dior. Sie leitet das Haute-Couture-Atelier, in dem Kleider und Abendroben angefertigt werden, und bereitet ihre letzte Kollektion vor, bevor sie in Rente geschickt wird. Als sie in der Metro bestohlen wird, die Diebin aber nichts mit den Inhalten ihrer Handtasche anfangen kann und sie zurückbringt, erkennt Esther das Potenzial der jungen Jade (Lyna Khoudri) aus der Banlieue und will ihr mit einem Praktikumsplatz im Atelier eine Chance anbieten.

Auch Esther wohnt außerhalb des Stadtzentrums, verkörpert aber in ihrem Tun und in ihrer Haltung, in ihrem Stil und ihrem Auftreten die Eleganz von Paris-Stadt, dem Herz der Reichen und Schönen – und steht damit im völligen Gegensatz zu dem Leben, das Jade führt. Es treffen also zwei Welten aufeinander, und auch wenn man um die Zerrissenheit der Hauptstadt, des Landes und der französischen Gesellschaft weiß, so führt sie einem der Film doch immer wieder gekonnt vor Augen: Wie die Menschen von ihren Vorteilen geleitet werden, wie sie skeptisch den Menschen aus anderen Lebensumständen begegnen, wie sie gefangen sind in der eigenen Welt – und wie ähnlich sie sich doch eigentlich sind. 

Immer wieder ist Jade versucht, den Praktikumsplatz bei Dior und damit die Chance ihres Lebens hinzuwerfen. Da sind die Anfeindungen der konservativen Schneiderin Andrée (Claude Perron), die strengen Regeln des Ateliers, aber auch ihre Probleme zu Hause: die depressive Mutter, die enttäuschte und ein wenig eifersüchtige beste Freundin Souad (Soumaye Bocoum), die bei Jade ein schlechtes Gewissen erzeugen. Und doch gibt es auch Menschen, die Jade unterstützen – Catherine (Pascale Arbillot), die den Weg aus Saint-Denis geschafft hat, oder Abdel (Adam Bessa), der sich bei Dior lieber Abel nennt und ebenfalls an einem Weg aus der Sackgasse arbeitet. Eine Überwindung der Differenzen und Grenzen erscheint möglich – wenn sich alle zusammenreißen.

Haute Couture zeichnet ein authentisches Bild von der französischen Gesellschaft, wenn auch geschönt und aufgepeppt mit dem Glitzern der Modewelt. Und er macht deutlich, wie stark sie von ihren Einwanderern und deren Kindern geprägt ist, auch wenn sie es vielleicht immer noch nicht wahrhaben mag – sodass eben Menschen ihre Namen abändern oder nicht an sich und die eigene Zukunft glauben wollen. Der Film spricht in Nebensätzen auch die verschiedenen Religionen und Glaubenshaltungen an und macht doch deutlich, dass sie sich alle ähnlich sind, wenn jeder auf seine Weise zu glauben meint, was Unglück bringt: eine heruntergefallene Schere oder etwas Religiöses gestohlen zu haben.

Vor allem Nathalie Baye überzeugt in ihrer Rolle der Dior-Schneiderin, die nichts anderes im Leben mehr hat als ihren Beruf – und den sie nun aufgeben muss. Sie liebt ihren Job über alles, er ist ihr Leben, und doch – das merkt man in ihren Gesten, in ihrem Blick, in ihrer Körperhaltung – fehlt ihr dort auch so einiges. Esther leidet an Diabetes, stopft aber immer wieder Süßigkeiten, Kuchen und Nachtisch in sich hinein. Sie leidet darunter, keinen Kontakt mehr zur Tochter zu haben und in Rente geschickt zu werden. Aber vielleicht ist die Rente auch ihre Chance auf etwas Neues. Das alles aber wird nicht ins Zentrum des Films gestellt, sondern passiert, ist der natürliche Lauf der Dinge.

Und doch hält Haute Couture auch ein wenig von dem, was der Titel verspricht, und bietet einen kunstvoll inszenierten Einblick in die Welt der Mode und das Schaffen in einem Designer-Atelier. Wenn man Jade verschiedene Stiche üben sieht, bekommt man eine Ahnung vom Handwerk und von der Kunst, die in den Haute-Couture-Ateliers immer noch ausgeübt wird. Diese Welt des Schönen und Wertvollen mit dem Blick auf die Realitäten im Land zu verbinden, das ist die große Stärke des Films – und bringt vielleicht auch das an Mode interessierte Publikum dazu, über die Welt außerhalb der Reichen und Schönen nachzudenken.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/haute-couture-die-schoenheit-der-geste-2021