Un autre monde (2021)

Die Ökonomie aller Dinge

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Die Welt von Philippe Lemesle (Vincent Lindon) liegt in Trümmern. Seine Frau Anne (Sandrine Kiberlain) will die Scheidung. In der ersten Szene des Films sitzt sich das Paar gegenüber. Die Anwälte an ihrer Seite. Der Tisch in der Mitte wird zur Frontlinie, an der entlang über den ökonomischen Austausch, über die Kompensation eines verpassten Lebens gestritten wird. Anne hat für die Karriere ihres Mannes ihre eigenen beruflichen Ziele hintenangestellt und das Privatleben mehr erlitten, als in familiärer Innigkeit gelebt: Philippe hat seinen Job als Manager einer Fabrik über alles gestellt. Nun muss der Preis eben bezahlt werden.

Diese private Dimension einer Trennung hallt bis in die berufliche Situation von Philippe hinein. Der amerikanische Eigentümer der weltweit agierenden Firma fordert einen knallharten Abbau von Arbeitsplätzen. Um Wettbewerbsfähig zu bleiben, soll er seine ohnehin schon dezimierte Arbeiterschaft weiter ausdünnen. Schon jetzt ist der Druck für viele kaum mehr auszuhalten und auch Philippe ist sich darüber im Klaren, dass diese Pläne einzig und allein den Gesellschaftern einen kurzfristigen Nutzen einbringen wird. Das Wohl der Arbeiter_Innen und ein nachhaltiger Erhalt der Arbeit spielen keine Rolle.

Philippe will sich der Logik des Marktes nicht kampflos ergeben und kämpft für eine andere Welt innerhalb dieses Systems. Die knallharten Verhandlungen mit der machtbewusste Vorgesetzten (Marie Drucker) in Paris spitzen sich zu und die Angestellten proben den Aufstand; es bläst der eiskalte Wind der ökonomischen Rationalität. Welchen Preis wird Philippe für die eigene Überzeugung und die Bewahrung des letzten Restes an Menschlichkeit zahlen müssen?

Mit Un Autre Monde führt der französische Regisseur Stéphane Brizé seine im Vorfeld ausgiebig recherchierten Analysen der modernen Arbeitswelt und der kapitalistischen Ausbeutung weiter. Er verstellt geschickt die Schärfe seiner Linse, um in einer weiteren Drehung den Machtverhältnisse eine weitere Perspektive abzutrotzen. Der Wert des Menschen handelte von einem arbeitslosen Mann, der in seiner Verzweiflung zunehmend die Selbstachtung zu verlieren droht. Mit Streik folgte dann die atemlose Rekonstruktion eines Arbeiterkampfes und die zweischneidige Rolle von Gewerkschaften. Un Autre Monde wechselt nun auf die Seite der scheinbar Mächtigen, nur um erneut in einer systemischen Sackgasse zu landen.

Alle drei Filme sind sich im Aufbau sehr ähnlich. In allen drei Filmen wird die Hauptrolle von Vincent Lindon gespielt, der durch seine intensive Präsenz, die sich vor allem aus seiner zurückgenommen Expressivität speist, das verbindende Element dieser Trilogie ist. Diese Wiederholungsstruktur ist dabei der formelle Clou, weil dadurch die minimalen Verschiebungen erst ihre volle Kraft entfalten und die gegenseitige Bedingtheit der jeweiligen sozialen Rollen deutlich wird. Wenn man so will, bilden die Filme selbst eine narrative ökonomische Struktur, die sich den Austauschprozessen des Kapitalismus annähert. Einfache Wertungen oder gar belehrende Erklärungen gibt es nicht in den Filmen von Brizé. Er zeigt, erzählt und verkompliziert. Wir müssen uns dann dazu verhalten.

Egal ob Thierry aus Der Wert des Menschen, Laurent aus Streik oder nun Philippe in Un Autre Monde: Sie werden alle in derselben Bilanz verbucht, gefangen in einer Auswegslosigkeit, wie als hätte die unsichtbare Hand des Marktes sie gepackt, um sie langsam aber sicher auszupressen. Zwar finden alle drei ihre Lösungen, einen Rest Würde zu behalten. Gewinner gibt es keine; sie alle schreiben auf die eine oder andere Weise rote Zahlen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/un-autre-monde-2021