Wir sind die Flut

Eine Filmkritik von Björn Helbig

Ermüdende Schnitzeljagd

Schon der Titel: „Wir sind das Volk“, „Wir sind Weltmeister“, „Wir sind Papst“ und nun sind wir die Flut. Um wen es sich bei dem ominösen „wir“ in Sebastian Hilgers Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg handelt und was es eigentlich bedeutet, dass wir „die Flut“ sind, bleibt, wie so vieles, in dem ambitionierten, aber letztlich zwiespältigen Werk vage.
In der kleinen Küstenstadt Windholm ist seltsames passiert: Vor 15 Jahren verschwand hier auf unerklärliche Weise nicht nur das Meer, sondern auch ein Großteil der heimischen Kinder. Zwei junge Wissenschaftler aus Berlin, der von dem Phänomen besessene Micha (Max Mauff) und seine Ex-Freundin Jana (Lana Cooper), reisen nach Windholm, um den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Während sich Micha mehr für die naturwissenschaftliche Anomalie interessiert, nehmen Jana vor allem die verschwundenen Kinder sehr mit. Bei der traumatisierten Dorfbevölkerung stoßen die Forschungen der beiden auf wenig Verständnis. Nur Hanna (Swantje Kohlhof), das einzige Kind, das damals nicht verschwunden ist, hilft den beiden.

„In den unzähligen Malen, in denen die Flut der Ebbe folgte, glauben wir eine Regelmäßigkeit zu erkennen, die sich ewig fortsetzt. Doch was, wenn es einmal anders ist? Wer hat gesagt, dass auf jede Nacht ein Tag, auf jeden Winter ein Sommer, auf jede Ebbe eine Flut folgen muss?“ — Die ersten Zeilen aus dem Vorspann von Wir sind die Flut signalisieren Tiefe. Hier soll es nicht einfach um einen mysteriösen Fall gehen, bei dem Meer und Dorfjugend auf unerklärliche Weise verschwinden, sondern um mehr. Das wird im Verlauf des Films immer klarer. Könnte es am Anfang noch eine Folge von Akte X sein, nimmt die Geschichte im weiteren Verlauf immer mehr lyncheske Züge an. Warum tun sich deutsche Filmemacher eigentlich oft so schwer damit, einen einfachen Genrefilm zu drehen? Wie auch immer die Antwort lautet, es ist jedenfalls sehr schade, denn die Prämisse von Hilgers zweitem Spielfilm ist spannend und hätte Potenzial gehabt. Was genau ist da schiefgegangen?

Zunächst einmal das Offensichtliche: Wir sind die Flut ist nicht spannend. Mag man am Anfang noch ein wenig neugierig sein, warum denn Kinder und Flut gleichzeitig weg sind, stellen sich schon bald stärkere Ermüdungserscheinungen ein. Micha und Jana gehen von einem Ort zum anderen, treffen Personen, die sich seltsam verhalten und bedeutungsschwangere Dinge sagen; und sie erhalten immer mehr Hinweise, welche den Fall aber leider nicht voranbringen, sondern immer mehr metaphysisch verästeln. Einen Schritt vor, zwei zurück. Gegen das dramaturgisch schwache Drehbuch von Nadine Gottmann, ihr Abschlussprojekt an der Filmhochschule Konrad Wolf, ist auch die auffallend gute Kameraarbeit von Simon Vu kein wirksames Mittel — im Gegenteil: der Fokus auf die Ästhetik unterstreicht nur sehr deutlich die misslungene Poetik. So künstlich wie die Geschichte wirken auch die Bilder und selbst das Schauspiel von Max Mauff, Lana Cooper und den anderen Darstellern bekommt in diesem artifiziellen Setting eine unnatürliche Anmutung.

Interessant ist anfangs immerhin die Figurenkonstellation: Während sich der Mann für die Flut und die damit verbundenen wissenschaftlichen Aspekte interessiert, ist die Frau — aus biografischen Gründen, wie sich später herausstellt — besonders empfänglich für die emotionale Seite der Ereignisse, die verschwundenen Kinder und das Leid der Dorfbewohner. Doch was vielversprechend beginnt und sich zu einer möglicherweise interessanten Gender-Reflexion hätte entwickeln können, wird wie alles, was sich zu konkret und greifbar anbahnt, bald links liegen gelassen. Vielleicht ist dies das Hauptproblem von Hilgers Film — seine Weigerung, Entscheidungen zu treffen, seinem Film eine klare Richtung zu geben, fast so, als würde er sich dadurch angreifbar machen. Aber auch hier ist wieder das Gegenteil richtig. Wenn man nicht weiß, welchen Hafen man ansteuert — das wusste schon der römische Dichter und Philosoph Seneca — ist kein Wind der Richtige.

So bleibt die Frage — was soll das alles? „Wir sind die Flut ist ein Film über Eskapismus und Entscheidungen, über den Verlust der Kindheit und die Verlorenheit einer Generation, über den Blick auf die Erde aus dem Weltall — und den Preis, den wir zahlen, um sie so zu sehen“ heißt es im Presseheft zur Geschichte. Und was soll das schon wieder bedeuten? Ein Rätsel folgt hier dem nächsten und man kann es den Zuschauern wohl kaum verübeln, wenn diese irgendwann keine Lust mehr haben, Hilgers ermüdender Schnitzeljagd bis zum Schluss aufmerksam zu folgen. „Ihr habt uns gesagt, wir könnten alles erreichen und nun stehen wir hier …“. Wir sind enttäuscht.

Wir sind die Flut

Schon der Titel: „Wir sind das Volk“, „Wir sind Weltmeister“, „Wir sind Papst“ und nun sind wir die Flut. Um wen es sich bei dem ominösen „wir“ in Sebastian Hilgers Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg handelt und was es eigentlich bedeutet, dass wir „die Flut“ sind, bleibt, wie so vieles, in dem ambitionierten, aber letztlich zwiespältigen Werk vage.
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