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Der Gedanke an Freiheit ist dem Menschen als Ideal unabdingbar. Doch wie es in die Realität umsetzen?

Freiheit (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Nothing left to loose

Der Gedanke an Freiheit ist dem Menschen als Ideal unabdingbar. Doch wie es in die Realität umsetzen? Freiheit von Jan Speckenbach verhandelt die Möglichkeiten und Grenzen, die Hoffnungen und Auswirkungen unbedingten Freiheitswillens: Eine Frau brach aus der Familie aus. Ein Filmdrama der anderen Art: Nicht als Drama der Beziehung(en), als Drama fortschreitender Handlung, als Drama von Entfremdung, Entscheidung und Konsequenz, sondern als Drama der Tatsachen: Es ist, wie es ist. Ist es Freiheit?

Kunstmuseum in Wien. Eine Besucherin betrachtet abwesend die Gemälde. Orpheus und Eurydike, Höllensturz, Turmbau von Babel. Sie fährt mit dem Bus, immer weiter, bis zur Endhaltestelle, mit tieftraurigem Blick. Auch ein Überfall auf den Bus reißt sie nicht aus der Abwesenheit. Lethargie – aus dem Fluss Lethe, so heißt es zu Beginn, müssen die Seelen trinken, um das Vergessen zu erlangen vor der Wiedergeburt. Die Frau wandert durch Wien. In einem Supermarkt lässt sie sich nett anflirten. Im Bett bewundert sie seinen Schwanz. Bis er bemerkt, dass sie gar nicht Petra heißt. Da haut sie ab.

Währenddessen hat es ein Anwalt in Berlin mit einem schwierigen Fall zu tun. Ein Schwarzer wurde ins Koma geprügelt; der Täter fühlt wenig Reue, seine Eltern auch nicht, es ist eben passiert, und als es passiert ist, konnte er es halt auch nicht mehr aufhalten. Der Anwalt hat Kinder. Der Anwalt hat eine Mutter, die mithilft im Alltag. Der Anwalt ist ziemlich allein.

Speckenbach stellt zwei Handlungsfäden nebeneinander, die nicht zeitlich, nicht dramaturgisch, nur kausal zusammenhängen. Die Frau ist weg. Die Familie bleibt. Die Frau reist weiter nach Bratislava. Warum auch nicht? Der Mann bleibt in Berlin. Wie könnte er anders? Speckenbach dreht nicht auf zuspitzendes Gefühl, er dreht nicht auf konventionelles emotionales Anstupsen des Zuschauers. Er dreht im Grunde auf Dialektik. Und lässt immer wieder, deutlich oder subtil, verschiedene Formen von Freiheit und Freiheitswillen auftreten.

Ein Backpacker reist durch die Welt, er will die Menschen sehen, sie wirklich kennenlernen, und findet doch nur die Vorurteile, die er ohnehin im Kopf hat. Im Musikclub kann man sich gehen lassen – für eine Nacht. Im Hotelzimmer kann man rauchen, und man kann von Gästen den Schal verschwinden lassen, das Statussymbol deutscher Anwälte. Man kann nackt durch eine Wohnung laufen, die jemand Fremdem gehört. Und man kann Freundschaft schließen, vielleicht gar zu einer Frau, die ziemlich frei, auf jeden Fall freizügig zu sein scheint. Sie ist Performerin. Für Live-Sex auf der Bühne. Hat einen Mann und zwei Kinder. Und ist glücklich.

Und Philip in Berlin – er hat eine Kollegin, die in ihm so etwas wie Liebe sucht. Er hat zwei Kinder, die er durch den Tag bringt. Er hat Angst, dass seine Teenager-Tochter schwanger wird, mag die Schwiegermutter nicht, auf die er angewiesen ist, hat keinen Gesprächspartner außer dem Krankenhaus-Opfer des Gewalttäters, den er verteidigen muss. Er ist gefangen – vielleicht. Vielleicht muss er auch nur täglich Entscheidungen treffen, und diese Entscheidungen sind seine Freiheit. Denn mit Freiheit, absoluter Freiheit, zerbrechen Bindungen; und es zerbricht die Möglichkeit des Trostes.

Speckenbach geht sehr klug vor, führt seine Handlungen parallel, um sie immer wieder kurzzuschließen, macht nicht den Fehler dramatisierender Rückblenden, sondern weicht immer wieder aus auf eine Traumebene, die aus Überblendungen und Musik beinahe experimentell erscheint. Er entwickelt seine Figuren geschickt, führt sie weiter in ihrem Dasein, in ihrem Sosein, und ja: Das ist spannend, wenn auch nicht auf konventionelle Art des Suspense. Immer wieder neue Facetten gilt es zu entdecken, immer wieder neue Möglichkeiten von Freiheit. Im Kleinen wie im Großen. Im letzten Viertel kommt alles zusammen, ohne dass erklärt wird: Das Ende von Gemeinsamkeit, der Beginn von Ungebundenheit. Wir sehen am Schluss ein Hochhaus jenseits des Flusses, die Lichter in der Nacht – ist es der babylonische Turm, in dem sich die Menschen Freiheit von Gott erschaffen wollten und mit ewiger Trennung bestraft wurden?
 

Freiheit (2017)

Der Gedanke an Freiheit ist dem Menschen als Ideal unabdingbar. Doch wie es in die Realität umsetzen? „Freiheit“ von Jan Speckenbach verhandelt die Möglichkeiten und Grenzen, die Hoffnungen und Auswirkungen unbedingten Freiheitswillens: Eine Frau brach aus der Familie aus. Ein Filmdrama der anderen Art: Nicht als Drama der Beziehung(en), als Drama fortschreitender Handlung, als Drama von Entfremdung, Entscheidung und Konsequenz, sondern als Drama der Tatsachen: Es ist, wie es ist. Ist es Freiheit?

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Meinungen

Olav Parnem · 05.06.2022

Was man in Berlin so unter Freiheit versteht....
Die Ehefrau und Mutter verlässt Mann und Familie, geht ziellos in die Welt, geht ziellos mit irgendwelchen Männern ins Bett, kümmert sich einen Dreck um ihre Familie (weint einmal, aber nur aus Mitleid mit sich selbst), und das ist also ihre Freiheit.

Der Ehemann hat die Freiheit, sich jeden Tag um die kleinen Kinder zu kümmern und irgendwie den Laden in Schwung zu halten. Bekommt keinerlei Möglichkeit wenigstens zu erfahren, warum diese Frau ihnen allen das antun, denn ein Antun ist das was diese Frau macht!
Das ist also die Freiheit des Ehemannes?

Welches Wertesystem muss man haben um so einen Film mit einer solchen Aussage zu feiern?

Falk · 20.07.2020

So ein Knetsch...

D. teebken · 18.03.2019

Der amorphe ‘Hundertwasser‘ Wohnturm ist die perfekte Kulisse für die Schlussszene- Sinnbild für die absolute Freiheit.
Was mich interessieren würde: Wo und an welchem Fluss liegen diese Häuser am Berg oder ist es nur ein geschickt eingearbeiteter Hintergrund?