120 BPM (2017)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Das Private ist politisch

120 BPM ist ein Film über das Kämpfen – gegen die Ignoranz in Politik und Gesellschaft, gegen das skrupellose Profitdenken der Pharmaindustrie, aber auch gegen die Krankheit, die zunehmende Schwäche und den Tod. In seiner dritten Regiearbeit befasst sich Robin Campillo mit dem Pariser Ableger des 1987 in New York entstandenen Interessenverbandes Act Up (AIDS Coalition to Unleash Power), bei dem er einst selbst in seinem langjährigen Einsatz für LGBTQ-Rechte mitwirkte. Die Handlung ist Anfang der 1990er Jahre angesiedelt – in einer Zeit, in der sich AIDS-Kranke einer extremen Diskriminierung ausgesetzt sahen.

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Zunächst widmet sich das Drehbuch, das Campillo gemeinsam mit Philippe Mangeot verfasste, dem Kollektiv: In regelmäßigen Treffen, bei denen es klare Kommunikationsvorschriften gibt, diskutiert die Gruppe über den Erfolg oder Misserfolg vergangener Aktionen, entwickelt Pläne und Strategien für zukünftige Operationen – und setzt diese schließlich mit dem Ziel um, eine möglichst große Aufmerksamkeit zu erregen und die Entscheidungsträger_innen zum Nach- und Umdenken sowie zum Handeln zu bringen. Dazu stürmt Act Up unter anderem die Büros und Labore von Konzernen, unterbricht den Unterricht an Schulen, stört Podiumsgespräche und Empfänge und nutzt Kunstblut, Trillerpfeifen, Schilder sowie Flugblätter. Über die Anwendung von Gewalt und somit über die Frage, wie weit man im Kampf für Aufklärung, Prävention und letztlich für das Retten von Leben gehen darf, wird immer wieder heftig debattiert. 120 BPM zeigt nicht nur die Konflikte der Gruppe mit der Außenwelt, sondern ebenso die internen Differenzen. So viel die einzelnen Mitglieder verbindet, so viel trennt sie teilweise auch in ihrem Denken, Fühlen und Agieren.

Campillo gelingt es in seiner Inszenierung, das Klima der damaligen Zeit treffend einzufangen. „Silence = Death“ lautet ein Slogan des Verbandes – und 120 BPM lässt uns spüren, wie laut und energisch man sein muss, um bis zur totalen Erschöpfung gegen dieses todbringende Schweigen anzugehen. Dabei stilisiert der Filmemacher sein Personal nicht zu Held_innen – die Figuren haben Ecken und Kanten und verhalten sich oft ziemlich unbeherrscht. Die Sicht auf sie hat in einigen Passagen eine dokumentarische Anmutung; später verdichtet sich das Porträt einer Gemeinschaft zu einer intimeren Geschichte: Der aufbrausende, zunehmend unter Krankheitserscheinungen leidende Sean (Nahuel Pérez Biscayart) verliebt sich in den Gruppenneuzugang Nathan (Arnaud Valois), welcher zu den wenigen Mitgliedern gehört, die nicht selbst HIV-positiv sind. Man kann dem Skript eine gewisse dramaturgische Unebenheit vorwerfen, da die Darstellung des Aktivismus in der zweiten Hälfte der Erzählung zugunsten der Schilderung eines Einzelschicksals in den Hintergrund tritt und dadurch leider auch interessante Charaktere aus dem Blick geraten – etwa Thibault (Antoine Reinartz), der Sprecher der Gruppe, oder die resolute Sophie (Adèle Haenel). Der Film demonstriert auf diese Weise aber konsequent, dass der damals noch hoffnungslose Kampf gegen AIDS für das Individuum letztlich nicht mit spektakulären Guerilla-Aktionen endet, sondern in der privaten Konfrontation mit dem eigenen, sterbenden Körper. Nahuel Pérez Biscayart (Becks letzter Sommer) und sein Leinwandpartner Arnaud Valois spielen das gänzlich ohne Pathos.

Dass das Private politisch ist, wird überdies in den leicht surreal gestalteten Tanzszenen von 120 BPM erkennbar: Wenn sich die Mitglieder von Act Up in einem Club zu pulsierenden Klängen bewegen, geht es nicht nur darum, sich von der rauen Wirklichkeit abzulenken; es geht auch darum, sich einen (Schutz-)Raum zu erobern, in welchem ein Lieben und Begehren abseits der (Hetero-)Norm gefeiert werden kann. In solchen Momenten erzählt der Film nicht vom Tod, sondern vom Leben – immer jedoch vom Kämpfen.
 

120 BPM (2017)

Der Zähe Kampf um Anerkennung

In den frühen 1990er Jahren ist die Immunschwächekrankheit HIV zwar längst in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen, doch AIDS ist damals noch (und zum Teil gilt dies bis in unsere Gegenwart hinein) stets eine Erkrankung, die vor allem die „Anderen“ betrifft: die Schwulen, die Junkies und die Prostituierten. Und so sind die Maßnahmen der staatlichen Gesundheitsbehörden ebenso inkonsequent wie verlogen. Sexuelle Aufklärung über Ansteckungswege und Prävention findet in den Schulen nicht statt, Pharmafirmen wie Forschungslabore haben vor allem den eigenen Profit und ihr PR-Image im Sinn, wenn sie Ergebnisse ihrer Untersuchungen bis zur nächsten großen Konferenz unter Verschluss halten.

Gegen die Marginalisierung und das Wegschauen hat sich in den ausgehenden 1980er Jahren in New York die Selbsthilfe- und Protestbewegung Act Up (was für AIDS Coalition to Unleash Power steht) gebildet. Der Drehbuchautor (unter anderem für die beiden Filme Die Klasse und Foxfire von Laurent Cantet) und Filmemacher (Eastern Boys) Robin Campillo war von 1992 an selbst Aktivist beim Pariser Ableger von Act Up und setzt der Bewegung mit seinem nunmehr dritten Spielfilm 120 battements par minute ein streckenweise sehr bewegendes, aber insgesamt viel zu langes und langatmiges Denkmal, das – erstaunlich genug bei diesem Titel – jenes vor allem schnelle Rhythmusgefühl vermissen lässt, das der Titel vollmundig verspricht. Statt pumpendem House ist 120 Battements par minute eher ein überlanger Downbeat-Remixtrack einer untergegangenen Zeit.

Nach einer später immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigten Störaktion gegen den Auftritt eines staatlichen Gesundheitsfunktionärs steigt 120 Battements par minute mit einer der wöchentlichen Versammlungen der Gruppe ein: Neben dem Sprecher Thibault (Antoine Reinartz) werden einige weitere prägende Figuren vorgestellt. Eine von ihnen erklärt den neu Hinzugekommenen stellvertretend für den Zuschauer die Kommunikationsregeln: Statt Beifall äußern die Teilnehmer ihre Zustimmung mit Fingerschnippen und ihr Missfallen mit leisem Zischen, gerät ein Redebeitrag zu lang, wird dem Sprecher das Wort entzogen, Unterbrechungen sind prinzipiell verpönt und Diskussionen dürfen grundsätzlich nicht auf den Gängen weitergeführt werden. Behutsam und beiläufig entfaltet Campillo sein Ensemble: neben dem radikalere Ansichten vertretenden Sean (Nahuel Pérez Biscayart) fällt unter den Neuen vor allem der ruhige Nathan (Arnaud Valois) auf, der als einer der wenigen Teilnehmer nicht selbst HIV-positiv ist und den man durchaus als Alter ego des früheren Aktivisten Robin Campillo verstehen kann, zumal dessen Beitritt ungefähr zur gleichen Zeit stattgefunden haben dürfte wie jener Nathans. Für emotionale Identifikation mit zumindest einigen Personen des recht großen Ensembles sorgen vor allem die Liebesgeschichte zwischen Sean und Nathan und die Todesfälle, die immer wieder schmerzhafte Lücken in den Reihen der Aktivist_innen entstehen lassen.

In einem Wechsel aus Aufnahmen von den Meetings und teilweise hitzigen Diskussionen der Gruppe, den Aktionen, ausgelassenen Feiern zu pulsierender House-Musik und ruhigen Sequenzen über das Leben und Sterben einzelner Aktivist_innen versucht sich der Film vor allem dem Lebensgefühl der damaligen Zeit anzunähern und wirkt so streckenweise wie eine manchmal recht langatmige Erinnerungsarbeit. Das liegt hauptsächlich an den vielen Diskussionen, in denen in aller Ausführlichkeit medizinische Details von großer Komplexität ebenso ausgebreitet werden wie heftige Richtungsstreits und das zähe Ringen um das richtige Maß bei Aktionen. Zwar verdeutlichen diese leidenschaftlichen Diskussionen recht anschaulich, wie diese Gruppe funktionierte und wie wichtig ihre Arbeit war, doch für jene Zuschauer, denen das Thema nicht so naheliegt, ergibt sich hieraus auch ein enormes Ermüdungspotential, das durch die anderen Elemente des Films nicht wirklich gemildert werden kann. Viel zu selten nimmt sich Robin Campillo jene erzählerischen und formalen Freiheiten heraus, die das Wirken von Act Up neben allem Ringen um Effizienz und funktionierenden Strukturen eben auch auszeichnete. Dass Verzweiflung, ziviler Ungehorsam und Kreativität wichtige Motoren für gesellschaftliche Veränderungen sein können, davon erfährt man manches in 120 battements par minute. Nur spiegelt sich das weder in Campillos erzählerischer Haltung noch in seinem Gestaltungswillen in ausreichender Konsequenz wider.
 

120 BPM (2017)

„120 BPM“ ist ein Film über das Kämpfen – gegen die Ignoranz in Politik und Gesellschaft, gegen das skrupellose Profitdenken der Pharmaindustrie, aber auch gegen die Krankheit, die zunehmende Schwäche und den Tod. In seiner dritten Regiearbeit befasst sich Robin Campillo mit dem Pariser Ableger des 1987 in New York entstandenen Interessenverbandes „Act Up“ („AIDS Coalition to Unleash Power“), bei dem er einst selbst in seinem langjährigen Einsatz für LGBTQ-Rechte mitwirkte.

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