1001 Nacht - Teil 1: Der Ruhelose

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Fliegender Fleckenteppich

Diesen Sommer kommt die 1001-Nacht-Trilogie von Miguel Gomes mit erheblicher Verspätung in die Kinos. Das mag etwas merkwürdig klingen, denn ein Film kann nie zu spät kommen, aber in diesem besonderen Fall schmerzt die Zeit, die seit der Uraufführung im vergangenen Jahr in Cannes verging, doch sehr. Der Film ist nämlich eine Reaktion des Kinos und der Fiktion auf die Aktualität und die Politik. In vielerlei Hinsicht gilt auch das für jeden Film, aber im Fall von 1001 Nacht hat sich diese Reaktion in der Produktion, ja in der Absicht des Films verfangen. Das Problem mehr als ein Jahr nach der Premiere des Films: Wir leben jetzt in einer anderen Welt. Das nimmt dem Film nichts von seiner Dringlichkeit, aber zeigt auf, wie langsam das Kino ist.
Eine Langsamkeit, die man braucht, um Zusammenhänge zu reflektieren, die sonst, wie wir es heute fast jeden Tag erleben, zu einfach und schnell hergestellt werden. Das Kino erlaubt den Abstand. Eine Bestandsaufnahme von zeitgenössischen Krisen gelingt Gomes dennoch wie kaum einem anderen Film zuvor: Das Festhalten eines tausendstimmigen Zuviel, wobei man keine Sicherheiten mehr bekommt und immer wenn man über etwas nachdenken will, sich bereits in der nächsten Geschichte zwischen Fiktion und Dokumentation befindet. Man kann es nicht eindeutig sagen, aber ständig gibt es da dieses Gefühl, dass einem etwas entgeht. 1001 Nacht ist ein Film, den man nicht gewachsen sein kann, der sich mehr oder wenig selbst zur Geschichte oder besser zum fantastischen Zeitzeugen erklärt und es somit der Zeit überlässt, etwas mit ihm anzufangen. Letztlich geht es in 1001 Nacht von Gomes genau darum: um unsere Unfähigkeit die Gegenwart zu erfassen und die daraus resultierende Notwendigkeit von Fiktionen.

Natürlich steht im Zentrum des Films Portugal. Ein Land, das sich wohl wie kaum ein zweites aufs Meer blickend in der Glorie vergangener Zeiten melancholisch aufrichtet, während es aus einem Abgrund ruft wie das Echo, das in Perfidia besungen wird, jenem Lied, das wir immerzu hören im Film in verschiedenen Variationen. Als wollte uns der Filmemacher sagen: Selbst die gleichen Emotionen klingen immer anders. Der Film wird leider über den ganzen Sommer verteilt und in drei Teilen ins Kino gebracht. Es ist sicherlich in Ordnung und wurde vom Filmemacher auch so gestattet, dass man sich die Teile mit Pausen ansieht. Ob diese Pausen jedoch von solcher Länge sein müssen, sei dahingestellt. Der erste Teil dieses riesigen Unterfangens, dieses dokumentarisch-fiktionalen Epos heißt: 1001 Nacht: Volume 1: Der Ruhelose.

Geschichten, die Geschichte schreiben

Darin öffnen sich zum ersten Mal die magischen Paläste der Inspiration, um auf die Politik, die Natur und das Kino zu treffen. Es sind zum Teil wilde, zum Teil sinnliche Spielereien und Ernsthaftigkeiten, die tief in der Tradition des portugiesischen Kinos von Manoel de Oliveira bis João César Monteiro stehen und beständig verhindern, dass man eine Geschlossenheit beim Sehen konstruieren kann. Es ist ein fliegender Fleckenteppich der Geschichten, die Geschichte schreiben. Nach einer Schifffahrt im Hafen, in der Träume und Realitäten zum ersten Mal in den Stimmen von Arbeitern kollidieren, den ersten dokumentarischen Geschichten um einen Hornissenbefall und seiner eigenen Flucht vor der Verantwortung gibt Gomes eines kurze, schriftliche Einführung in seine Arbeitsweise. Der Film, so heißt es dort, würde sich lose auf die Struktur der Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht beziehen, sei aber keine Adaption derselbigen. Allerdings wäre das Geschehen in das zeitgenössische Portugal, ein Land in einer erheblichen ökonomischen und sozialen Krise verlegt worden. Die Geschichten, die Gomes mit seiner Crew sammelte, fanden zwischen dem August 2013 und dem Juli 2014 statt.

Die Geschichtenerzählerin Scheherazade (Crista Alfaiate) wird auf einem Boot eingeführt. Sie lebt im alten Bagdad und muss ihren Mann, der dafür berühmt ist, seine Frauen zu töten, beeindrucken, indem sie ihm Geschichten erzählt. Deshalb sind alle schönen Frauen auf eine Insel geflohen, von wo sie Scheherazade mit Ideen helfen. Gomes erzählt diesen Strang und er er erzählt die Geschichten von Scheherazade in Portugal, in denen sie oft als andere Figur auftaucht. Es kommt zu einer Vermischung des heutigen Portugal mit dem vergangenen Bagdad. Die unterschiedlichen Episoden, die Scheherazade dem König erzählt, werden in zahlreiche Rahmen verpackt und erzeugen ein schier unendliches Wechselspiel aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen, inkohärenter, aber dennoch verwandt mit Gomes‘ Our beloved month of August.

An jenen Film erinnert der erste Teil der Trilogie in seiner titelgebenden Ruhelosigkeit am meisten, denn Gomes praktiziert hier am deutlichsten die Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Momenten. Es ist der verspielteste der drei Teile und es ist erstaunlich, wie Gomes dabei dennoch eine Art Einführung in seine Agenda darlegt. Wir hören die Stimmen der Portugiesen wie eine ewige Mahnung und beständige Poesie aus dem Herzen dieses Landes am Meer, diese Melancholie und dieser Humanismus von Gomes, scheinen wirklich aus dem Land und seinen Blicken heraus geboren zu werden. Andernorts wurde der Film vielleicht auch deshalb als Liebesbrief an Portugal verstanden, obwohl es doch ein sehr wütender Liebesbrief ist. Bis der Film zu seiner Struktur um die Arabischen Nächte findet, dauert es einige Zeit; Gomes ist ein Meister darin, seinen kreativen Findungsprozess filmisch festzuhalten. In diesem Findungsprozess stößt man auch zum ersten Mal auf einen Zweifel, einen Zweifel am Geschichtenerzählen, an der Geschichte, der Geschichtlichkeit. Kann man einer Idee und ihrer Realität beziehungsweise der Realität und ihren Ideen gerecht werden im Kino?

Die Zerbrechlichkeit der Narrationen

Was ist es mit dieser Flucht des Filmemachers, die Gomes am Anfang inszeniert? So sitzt er einsam zwischen seiner Crew, zieht eine Kapuze auf und rennt dann zum Schrecken des Filmteams davon. Gomes zweifelt, aber obwohl er in seinem eigenen Film als Feigling vor seiner Aufgabe flüchtet, stellt er sich eben jenem Unterfangen in der Realität seines Films umso heftiger, mit einer immensen Palette an filmischen Sensationen, Explosionen und Möglichkeiten. Es ist dies auch einer dieser humoristischen Zwischentöne, denen sich der Film nie ganz entziehen kann. Vor allem in einer bösartigen satirischen Sequenz mit Politikern, die in ihrer Tonalität durchaus mit Redemption von Gomes verwandt ist, drückt sich dieser Humor durch die Fassade der Aktualität. Auch ein Hahn, der für große Unruhen sorgt als Lärmstifter, kann sich einer gewissen Absurdität nicht entziehen. Hier spiegelt sich auch die Spontanität und das Treiben des Films. Es ist ein ruheloses Suchen nach Geschichten und ein ruheloses Einfangen und Erzählen dieser Geschichten. Wer einen Film erwartet, der dabei eine Form, ein Format (die „Bagdad-Sequenzen“ wurden in 35mm gedreht, die „Portugal-Sequenzen“ im 16mm-Format) oder einen Ton halten kann, der lebt nicht in dieser Welt.

Mit an Bord des Live-Drehs, bei dem es darum ging, dass man so tagesaktuell wie möglich Geschichten der Krise in Portugal findet und diese dann erzählt, war Kameramann Sayombhu Mukdeeprom. Diesen kennt man normal von seiner Zusammenarbeit mit Apichatpong Weerasethakul. Es gelingt ihm die Zerbrechlichkeit der Narrationen in seinen Bildern zu spiegeln. Es flirrt beständig und die Illusionen überlagern sich mit den Realitäten. So fährt die Kamera ganz leicht auf einige Männer zu, die Interviews zu ihrer sozialen Situation geben. Man hat eigentlich keinen Grund, an diesen Männer zu zweifeln, aber man bemerkt, dass hier beständig Konstruktionen und Narrative arbeiten. Geschichten und ihre Erzählung heute sind ein großes Anliegen von Gomes. Dabei wagt er mutige Schritte und beständige Rhythmuswechsel, die nie an Faszination verlieren.

So erzählt er eine Liebesgeschichte mit einer Art SMS-Dramaturgie, für die sich auch Olivier Assayas in seinem Personal Shopper interessiert und die bereits in Closer von Mike Nichols äußerst gelungen eingesetzt wurde. Dabei wird die Story durch Textnachrichten vorangetrieben und trotzdem entstehen dabei große Emotionen. Außerdem scheut sich der Film nicht vor einer animalischen und satirischen Vulgarität. Gomes scheint eine Lösung hinter den komplexen Problemen und großen Katastrophen seines Landes immer wieder in äußerst banalen und animalischen Verhaltensweisen zu finden. Bei den großen Politikern zum Beispiel geht es letztlich — wie man das schon immer gewusst bzw. geahnt hat — um Erektionen. In fast allen Episoden wird Tieren ein prominenter Platz gegeben. Im Laufe der drei Teile trifft man auf tote Wale, Hunde, einen berühmten Hahn, singende Vögel, Kamele, einen Esel und vieles mehr. Zu Beginn philosophiert Gomes über das metaphorische Potenzial solcher paralleler Ereignisse. Dabei geht es ihm um ein Problem mit Insekten in der Gegend, in der er die Geschichte(n) des Hafens erzählt. Doch eine Metapher, das wird klar, ist genauso einer Krise unterzogen, weil eine Metapher Teil einer narrativen Struktur ist, die mit 1001 Nacht nicht mehr greifen kann. Wenn sich die Zeit allerdings verschiebt und der Film an Aktualität verliert, wird er vielleicht doch wieder zur Metapher, zur Fiktion. Das Reale ist hier immer Teil der Imagination und die Imagination ein Teil der Realität. Man denke an Märchen, die Politiker erzählen, Legenden in unserer Geschichtswahrnehmung oder Sehnsüchte und Ängste, die die Realität erst als solche konstituieren. Indem Gomes das Fantastische (Tausendundeine Nacht) und das Reale (die Krise in Portugal) auch örtlich und in seiner Bildsprache trennt und es uns dennoch nicht erlaubt, sie emotional zu trennen, zeigt er uns zugleich die Kraft und das Versagen des Kinos, das immerzu nur aus Fragmenten bestehen kann, aber diese wie von selbst in unseren Augen zusammensetzt. Der erste Teil ist dabei ruhelos, weil er es sein muss.

1001 Nacht - Teil 1: Der Ruhelose

Diesen Sommer kommt die 1001-Nacht-Trilogie von Miguel Gomes mit erheblicher Verspätung in die Kinos. Das mag etwas merkwürdig klingen, denn ein Film kann nie zu spät kommen, aber in diesem besonderen Fall schmerzt die Zeit, die seit der Uraufführung im vergangenen Jahr in Cannes verging, doch sehr. Der Film ist nämlich eine Reaktion des Kinos und der Fiktion auf die Aktualität und die Politik.
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