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Rückblenden voller Gewalt und samtfarbene Träume, die vermeintlich in die Zukunft blicken lassen: Die kanadisch-tunesische Regisseurin Meryam Joobeur lässt ihre Gedanken in einem Feuerwerk aufgehen.

Who Do I Belong To (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Eine Wunde, die nicht heilt

In „Who Do I Belong To“ leuchten Hintergründe heller als Figuren. Bordeauxfarbene Wiesen, ein Geist, dessen Augen wir sehen. Traum und Trauma liegen nicht nur sprachlich beieinander – doch das eine vergeht, wenn die man die Augen wieder aufmacht, oder? Verlangen nach Gewissheit kann größer sein als der Schmerz der schlechten Nachricht. Was Kurzsicht ist, wird lange verheimlicht. Alter Habitus und Angst liegen in der Luft. Meryam Joobeur entführt die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihrem Film in einen Raum zwischen trister Wüste und über-ästhetisierter Traumwelt.

Tunesien. Eine Familie trauert um zwei ihrer drei Söhne, die in den Krieg gezogen sind. Ein Krieg, für den es sich nicht zu sterben lohne. Regisseurin Joobeur betont im Interview mit The Hollywood Reporter, dass Tunesien einer der größten Rekrutierungsherde des IS sei. Doch ihr Film ist nicht einem Spezifikum gewidmet, Joobeur geht auf die Suche nach dem, „was Menschen zu solch extremen Gewalttaten antreibt“, so die Regisseurin. 

Who Do I Belong To ist Joobeurs erster Langfilm, unerfahren ist sie aber alle Male nicht. Nach einigen Kurzfilmen, von denen Brotherhood (2018), der die Grundlage für diesen Film bildet, Oscar-nominiert wurde, konnte sie sich die Finanzierung sichern, um aus einem Kurz- einen Langfilm zu machen. Das merkt man. Who Do I Belong To ist sicher im Stil, und seine Bilder haben Sprache. 

Im Zentrum des Films steht die Überlagerung zweier Gedankenbilder. Während Mutter Aicha (Salha Nasraoui) über den Schmerz der Abwesenheit ihrer Söhne spricht – einen Moment nicht aufgepasst –, schneidet sie sich in die Hand. Eine Szene, zwei Bilder: eine Wunde, die nicht heilt, und Blut an den Händen. Die ambige Verschmelzung zweier Metaphern, Sprichwörter, Gedanken, die den Zuschauerinnen und Zuschauern das intuitive Deuten ermöglicht, gelingt der Regisseurin ausgesprochen gut. Mit jedem beiläufigen Blick auf die verbundene Hand wird man an den Widerspruch im Kern erinnert. 

Bei der Eröffnung der Berlinale wurde ein Begriff immer wieder verwendet: Gleichzeitigkeit. Etwas, dem wir täglich ausgesetzt sind. Lebensrealitäten kollidieren drastisch und passieren doch vollkommen unabhängig voneinander. Auch im Eröffnungsfilm Small Things Like These war dies visuell sichtbar: ein Fenster, verspiegelt – ein Blick auf die Außenwelt, der Fokus ändert die Sicht, und plötzlich sieht man die Person im Fenster, die auf das Geschehen blickt. Das ist sicher ein recht plakativer Kameratrick, doch wir sollten unsere Rolle als Zuschauerinnen und Zuschauer so wahrnehmen: Was gleichzeitig passiert, wird verschoben in eine Chronologie auf der Leinwand. Who Do I Belong To infundiert Traum und Trauma – zwei gleichzeitige Ebenen. Dazu bedarf es keiner Fensterscheibe, sie fließen ins Narrative, verlassen dieses aber auch wieder. Spuren bleiben. 

Sohn Mehdi (Malek Mechergui) kehrt ohne Bruder, jedoch mit schwangerer Ehefrau aus dem Krieg zurück. Kein Wort sagt sie. „Warum trägt sie einen Niqab“ (einen voll bedeckender Gesichtsschleier), sie sei doch gar nicht muslimisch. Zur Überraschung wissen die Charaktere selbst keine klaren Antworten. Als Film, der sich eine gewisse Form von Aufklärung vornimmt, zeigt Who Do I Belong To vor allem eins: Geschlossene Diskurse oder Konsens bei „den anderen“ – die wir nicht kennen – gibt es nicht. Der Film verwandelt Tunesien nicht in Urlaubsbilder. Trotzdem herrscht Schön- anstelle Fremdheit. Zuschauerinnen und Zuschauer, die mit ästhetischen Klischees ins Kino gehen, zieht er den Boden unter den Füßen hinweg. Besagte Ehefrau, Reem (Dea Liane), gleitet unbemerkt wie eine gespenstische Figur durch das Dorf. Seltsame Vorkommnisse Folgen. Nur in prophetischen Träumen von Aicha taucht sie auf. Dinge sind wohl nicht, wie sie scheinen. 

Joobeur sucht 117 Minuten lang nach dem Grund der unerklärlichen Bereitschaft zu Gewalt. Ihre Meditationen, ob bildlich oder formuliert in Narrative, ergeben Gedanken, Muster, bevor sie wieder im Weitergang der Geschichte zerfallen. Sand wird zu Samt, grüne Wiesen zu surrealen Farbklecksen. In den letzten Momenten von Who Do I Belong To fällt das fehlende Puzzlestück in seinen Platz. Joobeur findet eine Antwort auf ihre Suche. Ob die unterkomplex oder im richtigen Maße trivial ist, muss das Publikum entscheiden. Schade ist, dass poetische Erkundungen letztlich in einen von der Regisseurin vorbestimmten Platz laufen. Die Weite und Freiheit, die der Film zunächst aufweist, gehen verloren. Nach dem Schauen bleibt ein bedrückendes Gefühl. Der Film ist schwer. Aber das ist auch gut so. Die Physis gewordene Farbenlandschaft von Who Do I Belong To wird einen noch lange begleiten.

Who Do I Belong To (2024)

Aïcha, die eine Gabe für prophetische Träume hat, lebt mit ihrem Mann Brahim und ihren drei Söhnen auf einem Bauernhof im Norden Tunesiens. Als die ältesten Söhne, Mehdi und Amine, in den Krieg ziehen, wird die Welt von Aïcha und Brahim auf den Kopf gestellt. Bisher haben sie nur für ihre Kinder gelebt. Nun finden sie sich in einer neuen, schmerzhaften Realität wieder. Einige Monate später kehrt Mehdi mit einer schwangeren Frau namens Reem nach Hause zurück. Dass Reem Nikab trägt und immerzu schweigt, beunruhigt Brahim zutiefst. Aïcha hingegen heißt Mehdi und Reem in ihrem Haus willkommen und schwört, sie um jeden Preis zu beschützen. Mehdis Rückkehr löst seltsame Ereignisse im Dorf aus. Aïcha kreist so sehr um ihren Sohn, dass sie die wachsende Angst in ihrem Umfeld zunächst kaum bemerkt. Sie muss an die Grenzen ihrer mütterlichen Liebe gehen, um der zunehmenden Dunkelheit etwas entgegenzusetzen. (Quelle: Berlinale)

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