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Zwischen Namibia und Kolumbien, zwischen Fiktion und Essayfilm, zwischen Digital und 16mm-Material erzählt Nelson Carlos De Los Santos Arias die vielleicht verrückteste Geschichte im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb.

Pepe (2024)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Cocaine Hippo

Die Geschichte von „Pepe“ ist die Geschichte einer langen Reise über Kontinente hinweg, die Geschichte eines unfreiwilligen Neuanfangs in der Fremde, die Geschichte eines Einzelkämpfers und die Geschichte einfacher Leute, die das Pech haben, im Einflussbereich einer Handvoll Übermächtiger zu leben, die sich nicht um irgendwelche Belange außer ihrer eigenen kümmern. Vielleicht sollte ich dabei auch noch Folgendes erwähnen: Pepe ist inzwischen tot und blickt auf sein Leben zurück. Oh, und er ist ein Nilpferd.

Der scheidende Festivalleiter Carlo Chatrian nannte Pepe im Vorfeld der Berlinale den am schwersten zu klassifizierenden Film im diesjährigen Wettbewerb – und da hat er recht. Das Werk des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlos De Los Santos Arias arbeitet mit offensichtlichen Spielfilmsequenzen. Zusätzlich gibt es Abschnitte, bei denen nicht sofort klar ist, ob es sich um dokumentarisches Material, Found Footage oder schlicht Spielfilmszenen in einem anderen Stil handelt.

Dazu kommen Szenen eines TV-Cartoons für Kinder (ob für den Film produziert oder authentisch – wir wissen es nicht), digitale Aufnahmen ebenso wie grobkörniges 16mm-Material, ein Gewirr aus Spanisch, Afrikaans, Deutsch und Mbukushu, alles zusammengeführt in einer ambitionierten, auf effektvolle Irritation hin angelegten Montage. Und über allem die tief dröhnende Stimme und das knarrende Gelächter des verstorbenen Pepe, der sich fragt, wo zur Hölle er hier eigentlich gelandet ist.

Wer sich für invasive Arten oder für die Absurditäten des industrialisierten Drogenhandels interessiert, wird vielleicht schon einmal auf das Phänomen der sogenannten cocaine hippos gestoßen sein: In den späten 1970er-Jahren ließ der Drogenboss Pablo Escobar vier Flusspferde aus einem Zoo in den USA (im Film stammen sie direkt aus Südwestafrika, dem heutigen Namibia) in Kolumbien einfliegen und in seinem Privatzoo leben. Diese vermehrten sich erwartungsgemäß, breiteten sich im nahegelegenen Río Magdalena aus und stellen bis heute eine Gefahr für die lokale Flora und Fauna und nicht zuletzt die Menschen in der Region dar. 2009 erschossen Jäger eines der Tiere, dem Nelson Carlos De Los Santos Arias mit diesem Film seine Stimme zurückgibt.

Pepe lässt sich stilistisch grob in zwei Abschnitte einteilen: Die erste Hälfte ist ein einziges großes Experiment. Drohnenaufnahmen zeigen träge im Okavango dümpelnde Hippos, glühende Sonnenuntergänge füllen die Leinwand aus. Eine gestellte Sequenz mit einer Gruppe deutscher Touristen auf Safari in Südwestafrika bleibt besonders im Kopf: Jovial spricht da der weiße Touristenführer über „die blühende Fantasie der primitiven Stämme“ und weist den Schwarzen Fahrer rabiat zurecht, als dieser versucht vor den Gefahren eines ausgewachsenen Nilpferds im Angriffsmodus zu warnen. Eine Lektion in hinter freundlichen Gesichtern unzureichend verborgenem Rassismus, die in wenigen groben Strichen ganze Weltbilder illustriert.

In der zweiten Hälfte nimmt der Film schließlich eine Wendung hin zur konventionelleren Narration. Pepe ist in Kolumbien angekommen und verlässt nach einem verlorenen Territorialkampf Escobars Nápoles-Ranch. Wir folgen einem lokalen Fischer, der das Flusspferd mit seinem Netz erwischt und nur knapp mit dem Leben davonkommt. Währenddessen wird klar, was die Leute im ländlichen Kolumbien eigentlich umtreibt: Ihre Straßen sind schlecht, die Behörden überfordert oder überhaupt nicht präsent, manche Dörfer bisher nicht einmal ans Wasserverteilungssystem angeschlossen, dazu kommen Armut und Gewalt. Eingeschleppte Riesenviecher, die ihnen bei der Arbeit im Wasser auflauern, hatten sie nicht auch noch auf dem Schirm.

Es ist ein wenig schade, dass ausgerechnet diese zweite Hälfte des Films, die den Punkt der Geschichte deutlich macht, im direkten Vergleich zu seinem überwältigenden Auftakt ein wenig abfällt. Als hätte sich der Regisseur vor seinem eigenen künstlerischen Mut erschrocken, plötzlich nicht mehr auf seine Grundidee, auf sein Konzept vertraut. Trotzdem ist Pepe eine waghalsige Parabel, ein ungewöhnlicher Must-See-Film – der es im Übrigen auf einer Kosslick-Berlinale im Leben nicht in den Wettbewerb geschafft hätte.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

Pepe (2024)

Eine Stimme, die behauptet, einem Nilpferd zu gehören. Eine Stimme, die die Wahrnehmung von Zeit nicht begreift. Eine Stimme, die wie in Trance von einem historischen Ereignis erzählt. „Mache ich den Laut, der da aus meinem Maul kommt? Was ist überhaupt ein Maul?“ Das Einzige, was das Tier mit Sicherheit weiß, ist, dass es tot ist. Das erste und einzige Nilpferd, das je auf dem amerikanischen Kontinent getötet wurde. Die kolumbianische Presse taufte es Pepe. Zwischen Begegnungen und Missverständnissen, Momenten der Erleuchtung und der Traurigkeit gelangen die Zuschauer*innen in eine Welt voller Geschichten und noch mehr Geschichten. Auf ernste und spielerische, authentische und trügerische Weise erzählen Bilder und Klänge von der überwältigenden Oralität an Orten voller Wesen, die wie Pepe starben, ohne jemals zu wissen, wo sie wirklich waren. (Quelle: Berlinale)

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