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Wer sich auf dem Hof Fleckenbühl in Hessen einquartiert, hat schon viel versucht, um dem Alkohol oder anderen Drogen zu entkommen. Hier treffen Suchtkranke auf Menschen, die den Weg in die Abstinenz geschafft haben. Die Selbsthilfeeinrichtung bietet ihnen allen Halt durch strenge Regeln.

Gemeinsam nüchtern (2022)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Der lange Weg aus der Abhängigkeit

Miguel ist seit einem Jahr nüchtern. Aber er fährt nur dann vom hessischen Hof Fleckenbühl ins nahe gelegene Marburg, wenn er ein klares Ziel hat, wie den Besuch einer Buchhandlung. Wenn er durch die Stadt laufe, müsse er Nein sagen können, erklärt er. Der Dokumentarfilm von Fabian Schmalenbach hat Miguel und drei Mitbewohner*innen in Fleckenbühl ein Jahr lang mit der Kamera begleitet. In der staatlich anerkannten Selbsthilfeeinrichtung versuchen rund 120 Menschen, ihre Sucht dauerhaft hinter sich zu lassen, und zwar ohne therapeutische und medizinische Betreuung.

Zu Anfang des Films haben Miguel und Ingrid, eine Frau Anfang 60, die ersten sechs Monate in Fleckenbühl gerade erfolgreich absolviert. Sie bekommen ihre Handys und andere persönlichen Sachen ausgehändigt, die für sie geöffnete Post ebenfalls. Nun dürfen sie wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen und ohne Begleitung ausgehen. Ingrid ist erleichtert, dass sie sich die ergrauten Haare wieder färben kann, Miguel erfährt, dass seine Exfreundin keinen Kontakt mehr zu ihm wünscht. Werner, Mitte 40, lebt seit einem Jahr auf dem Hof und arbeitet in der Landwirtschaft. Seine Alkoholsucht hatte ihn ganz nach unten gebracht, auf die Straße. Die 49-jährige Marita wohnt seit 6 Jahren auf dem Hof, zusammen mit ihrem Mann und ihrem jugendlichen Sohn, dem sie hier noch eine Weile ein sicheres Zuhause bieten möchte.

Die vier Personen erzählen in Voice-Over über sich, die Kamera begleitet sie in ihrem Alltag. Alle müssen sich an die straffe Tagesstruktur halten und arbeiten, beispielsweise im Büro, im Hofcafé, in der Landwirtschaft. Wer noch keine zwei Jahre hier lebt, wohnt in Mehrbettzimmern, gegessen wird im Saal. Mit der Dauer des Aufenthalts steigt man in der sozialen Hierarchie auf, übernimmt Verantwortung, kann Anweisungen geben. Aus den beobachteten Situationen und den Erzählungen der Protagonisten kristallisiert sich allmählich das Bild einer reglementierten Gemeinschaft heraus, die ihren Mitgliedern einiges abverlangt. Man vernimmt eher beiläufig, dass die neuen Bewohner alles Geld, das sie besitzen, dem Hof überschreiben müssen, für ihre Arbeit offenbar nur eine Art Taschengeld erhalten. Wer – wie Werner im Verlauf der Dreharbeiten — nach einem Rückfall reumütig zurückkehrt, muss wieder ganz von vorne anfangen mit der sechsmonatigen Kontaktsperre.

Schnell stellt sich heraus, dass Schmalenbach keineswegs einen Werbefilm für diese Einrichtung gedreht hat. Er beobachtet unvoreingenommen. So gibt es harmonische Szenen zu sehen wie ein friedliches Weihnachtsfest im großen Saal, die Feier von Clean-Geburtstagen nach einem Jahr Abstinenz oder Gespräche in kleinen Runden, in denen Einzelne den Zuspruch und Rat anderer erhalten. Auch beim sogenannten Spiel, das der Konfliktlösung dienen soll, ist die Kamera einmal zugegen. Hier kann jeder, der mit einer anderen Person ein Problem hat, es ihr ins Gesicht sagen und sich mit ihr auseinandersetzen. Wie die Szene zeigt, sind Beleidigungen nicht ausgeschlossen. Eine professionelle Mediation ist nicht zu vernehmen. Ingrid, die kritische Stimme unter den vier Porträtierten, hat wenig übrig für das Ritual des Spiels, findet es manchmal demütigend. Auch sonst hat sie viel auszusetzen, fühlt sich am Hof oft bevormundet, als Arbeitskraft ausgenutzt, mit Problemen alleingelassen. Gerne hätte man im Film mehr erfahren über die kritisierten Punkte im Konzept der Einrichtung und auch beispielsweise, ob und wie den Bewohnern geholfen wird, im Leben draußen wieder Fuß zu fassen. Aber es fehlen jegliche Statements der Geschäftsführung, Meinungen externer Fachleute, Hintergrundinformationen.

Dafür aber bietet der Film zahlreiche bewegende Einblicke in das Wesen der Sucht. Miguel, Marita, Werner und Ingrid befinden sich in einem Kampf mit sich selbst, den sie früher schon oft verloren haben. Sie gehen hier durch Höhen und Tiefen, behalten auch nach monate- und jahrelanger Abstinenz die Angst vor einem Rückfall. Miguel sagt einmal, dass das Leben auf dem Hof so viel einfacher sei als draußen, es gebe hier nur richtig oder falsch, mehr nicht. Wie er sprechen auch die anderen über den Halt, die ihnen der Hof bietet, damit sie schrittweise wieder Selbstvertrauen fassen, sich und die Umwelt nüchtern erleben und ertragen lernen. Nach einem Jahr ist Miguel stolz auf seinen wachsenden Erfahrungsschatz „nicht-süchtiger Gedanken“. Nach 18 Monaten verabschiedet er sich, obwohl ihm wie den anderen auch empfohlen wurde, mindestens zwei Jahre zu bleiben. Die Sicherheit, nicht wieder ins Straucheln zu geraten und abzustürzen, wird ohnehin immer eine relative sein. Deshalb hören diejenigen, die gehen, dass sie in der Not wiederkommen können.

Gemeinsam nüchtern (2022)

Bei Cölbe, einem kleinen Ort in der Nähe von Marburg, liegt idyllisch zwischen Feldern abgeschieden der Hof Fleckenbühl – eine Selbsthilfeeinrichtung, in der suchtkranke Menschen die Möglichkeit haben, ein drogenfreies Leben zu beginnen. Das Konzept ohne Ärzte und Therapierende ging aus der Berliner Selbsthilfegemeinschaft „Synanon“ hervor und ist nicht unumstritten. Wie jährlich mehrere hundert Menschen kommen auch Miguel und Ingrid auf den Hof und müssen sich in dem streng hierarchischen System zurechtfinden. Alle persönlichen Gegenstände wie Handys müssen die Neuankömmlinge zu Beginn abgeben. Sie dürfen das Hofgelände in den ersten sechs Monaten nicht ohne Begleitung verlassen. Kontakt mit Menschen außerhalb des Hofs ist tabu! Miguel geben die starren Regeln recht bald Stabilität und Halt. Doch Ingrid eckt immer öfter an und beginnt, das System Fleckenbühls zu hinterfragen. (Quelle: W-Film)

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