Log Line

Der Kampf für die Demokratie kann als Einzelperson zermürbend und gefährlich sein. Die türkische Anwältin Eren Keskin hat ihn sich zur Lebensaufgabe gemacht. Sie verteidigt unter anderem Opfer von Polizeigewalt.

Eren (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Istanbuls mutige Anwältin

In die Istanbuler Kanzlei der Anwältin Eren Keskin kommen Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist. Eine Mandantin erzählt, dass sie auf einer Demonstration in ein Polizeiauto gezerrt und brutal geschlagen wurde. Die Anwältin rät zur Strafanzeige, obwohl die Polizisten erfahrungsgemäß ihre Beteiligung abstreiten würden. Die Mandantin erfährt, dass sie nicht allein ist und jemand mit ihr Rechenschaft einfordern wird für die erlittene Gewalt. Dabei muss die türkische Juristin und Menschenrechtsaktivistin Eren Keskin selbst stets damit rechnen, für viele Jahre ins Gefängnis geworfen zu werden. Es haben sich über 100 Verfahren gegen sie aufsummiert, viele von ihnen wegen Beleidigung des Türkentums.

Die deutsche Filmemacherin Maria Binder ist bei Amnesty International und in der türkischen Menschen- und Frauenrechtsbewegung aktiv. In einem kurzen Voice-Over-Kommentar erzählt sie in ihrem Dokumentarfilm, dass sie Eren Keskin vor 20 Jahren kennenlernte. Die Anwältin habe als eine der ersten im Land die Praktiken sexualisierter Folter angeprangert. Keskin, deren Vater Kurde war, engagiert sich auch für Angehörige verfolgter Minderheiten wie Kurden und Armenier. Sie verteidigte 1999 vor Gericht sogar Abdullah Öcalan, den Gründer und Chef der PKK, die in der Türkei, Deutschland und anderen Ländern als Terrororganisation gilt. Eine Zeitung druckte damals ihr Foto mit der Schlagzeile „Öcalans Hure“, sie erhielt täglich Morddrohungen.

Binders Porträt der mittlerweile über 60-jährigen Anwältin illustriert mit Archivmaterial auch ihren Karriereweg. Vor allem aber schildert es mit vielen kurzen und verschiedenartigen Beobachtungen den Alltag eines politisch beseelten Lebens. Keskin besucht eine kurdische Mandantin im Gefängnis, spricht auf Kundgebungen, besucht das letzte noch verbliebene armenische Dorf auf türkischem Gebiet. Vor den Bewohnern spricht sie aus, dass der türkische Staat auf Verbrechen wie dem Genozid an den Armeniern aufgebaut worden und nie demokratisch gewesen sei. Die Meinungs- und Redefreiheit sei dringend nötig, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. Keskin kandidiert auch für die Präsidentschaft der Anwaltskammer, damit sich diese stärker gegen rechtlose Zustände positioniert. Denn immer noch würden, erklärt sie, politische Aktivist*innen spurlos verschwinden oder paramilitärischen Banden zum Opfer fallen.

Wie sieht das Privatleben dieser mutigen Verfechterin von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aus? Oft besucht sie ihre Mutter in deren Wohnung. Einmal erzählt die armenische Pflegerin der alten Dame, die nach den Dreharbeiten verstarb, dass die Polizei die Wohnung gestürmt und nach einem „Herrn Keskin“ gefragt habe. Die Mutter erzählt im Film, dass sich Eren schon immer für Unterdrückte eingesetzt habe. Immer noch versucht sie, wenn auch nur zaghaft, die Tochter von neuem politischem Engagement abzuhalten, das ihr gefährlich werden könnte. In der eigenen Wohnung empfangen die Anwältin ihre geliebten Katzen. Oft sieht man Keskin in der Kanzlei im Gespräch mit Mitarbeiterinnen. Allein zu leben, sei schon immer ihr Wunsch gewesen, verrät sie. Die feudalen Werte der türkischen Gesellschaft machen die Ehe für sie zu einer Institution, die Frauen unterdrücke. 

Die unerschrockene Sprache dieser Juristin und Aktivistin beeindruckt. Als sie erzählt, dass ihr zwei Staaten politisches Asyl angeboten hätten, überrascht das nicht. Wer dem türkischen Staat so eloquent und zornig die Menschenrechtsverletzungen vorhält und ihm so vehement chauvinistische Rückständigkeit bescheinigt, kann sich im Land kaum sicher fühlen. Die Ungewissheit, wann und wie die Gerichte in den Verfahren gegen sie urteilen werden, setzt der Anwältin sichtlich zu. Aber sie sagt kategorisch, dass sie die Türkei niemals verlassen werde. Eren Keskin, das zeigt dieses spannende Porträt, will das Schicksal ihres Landes nicht dem gegenwärtigen Staat überlassen, sondern beherzt dafür sorgen, dass sich die Türen zur freiheitlichen Demokratie für alle seiner Bewohner*innen weiter öffnen.

Eren (2023)

„Eren“ porträtiert die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Eren Keskin. Eine Frau, die seit über 30 Jahren unbeirrt für Grundrechte und Frieden in der Türkei kämpft. Sie ist eine der wichtigsten Akteur*innen und Kläger*innen für die Rechte von Frauen, LGBTIQ* und Minderheiten; engagiert setzt sie sich gegen Folter und sexualisierte Gewalt ein. Ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit kennt keine Tabus und rüttelt an den Grundfesten des türkischen Staates.Dafür wird Eren Keskin mit absurden Anklagen zur Staatsfeindin erklärt und muss sich selbst verteidigen. In mehr als hundert Strafverfahren droht ihr eine lebenslange Haftstrafe. Seitdem lebt sie in einem Schwebezustand, denn sie weiß nicht, wie viel Zeit ihr noch in Freiheit bleibt. Jeden Augenblick könnte sie für immer hinter Gittern verschwinden.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen